Unzählige Bücher überfluten den Markt. Linn Penelope Micklitz und Josef Braun helfen einmal wöchentlich auf »kreuzer online« bei der Auswahl – diese Woche stellt Redakteur Tobias Prüwer noch einmal Sachbücher vor – über Gewalttechnologien, Leistungslügen und Krisenkapitalismus.
»Warum Cortés wirklich siegte«
Endlich, der neue Theweleit schließt die »Pocahontas«-Tetralogie ab. Nichts Geringeres als die Neuschreibung der Kolonialgeschichte unternimmt Klaus Theweleit in seinem vierbändigen Hauptwerk. Ging es in Band zwei um die Landname der indogermanischen Invasoren im Mittelmeerraum, so fügt er im finalen »Warum Cortés wirklich siegte« das Thema #metoo hinzu. Denn die Eroberer drangen über die Frauenkörper vor, vergewaltigten und zwangen sie zur Heirat. Davon zählen verklärte Mythen wie die von Pocahontas oder Medea – den Fremden helfende Frauen, die sich ihnen an den Hals werfen. Das geschieht nicht von ungefähr und wiederholt sich darum immer wieder, so Theweleit. Denn den Menschen des so genannten Westens wohnt seit der neolithischen Revolution eine Programmierung inne, eine bestimmte Personenstruktur, die ihn antreibt. Der Drang zur Analyse und Segmentierung seiner Umwelt führt zu permanenten technologischen Entwicklungen, die auch auf ihn zurückwirken. Das machte ihn in dieser Hinsicht überlegener als andere Kulturen, mit denen er bei der Erderoberung in Kontakt kam. Tatsächlich war es nicht das Schießpulver, mit denen Cortés und Co siegten, sondern Viren, nämlich Haustiervieren. Haustierzucht war bei den Indigenen Amerikas unbekannt, sie waren vor den Erregern nicht gefeit und starben daran millionenfach. Für Theweleit ist das ein Hinweis, dass unserer Technologie per se Gewalt innewohnt und zeigt das an weiteren Beispielen. Das ist die bittere Einsicht in Theweleits Opus magnum: Der Kolonialismus ist in uns, es wird nicht leicht, kein Rassist zu sein. Immerhin ist Einsicht ein wichtiger Schritt – aber es bleibt kompliziert.
»Die Leistungsdiktatur«
Die Lebenslüge im Kapitalismus lautet: alles beruht auf Leistung. »Leistung muss sich wieder lohnen«, fordern selbst Gewerkschaften – dabei hat sie sich noch nie gelohnt. Die Rede von der Leistung kaschiert die Ungerechtigkeiten im System. Und individualisiert gesellschaftliche Verantwortung: Jeder ist selbst schuld an seinem und ihrem Schicksal. Wer zum Beispiel auf Hartz-IV angewiesen ist, wird als zu faul und dumm deklariert, die persönliche Situation zu verändern – und man kann darüber schweigen, dass die kapitalistische Gesellschaft gar nicht auf Vollbeschäftigung fußt. Leistung ist deren Katalysator, der alle unter Druck setzt.
Peter Samol untersucht, auf welche Weise jeder einzelne von uns das Leistungs-Mantra verinnerlicht hat. Denn das ist das Perfide: Wir agieren selber im Korsett der Leistungslogik. Er schaut sich Institutionen wie die Schule an, wo keineswegs Bildung erworben, sondern nach Leistungsschema F gepaukt wird. Der Autor geht Karrierewegen nach, auf denen Konkurrenz alles bestimmt, bis hin zu Pflegeheimen, die auch diesem Prinzip folgen. Das ist klug und knapp aufgeschrieben. Folgerichtig ist Samols Schlussfolgerung: Die Leistungslogik basiert auf dem Arbeitsfetisch. Erst wenn der Wert des Menschen nicht mehr über Arbeit bestimmt wird, kann man den Kreislauf durchbrechen. Leicht einzusehen, schwierig bewerkstelligt. Aber dafür kann ja Peter Samol nichts.
»Gegenwartsbewältigung«
Max Czolleks Buch ist, zusammenfassend gesagt, ein Plädoyer für Vielfalt. Nicht um der Vielfalt selbst willen, denn die wäre ein leerer Wert. Radikale Vielfalt leitet Czollek von der Einsicht ab, dass Konzepte wie Leitkultur oder kulturelle Identität abzulehnen sind. Sie zwängen dem Menschen ein Wir auf, das anmaßend, nicht angemessen ist. Es gibt nicht die eine Werthierarchie, die alle teilen und sich alle hinein quetschen müssen. Das ist ein Phantasma. Die, die immer wieder die Leitkulturdebatte führen wollen, sehen nur selbst nicht ein, wie provinziell sie sind, also dass sie bloß aus persönlich interessierter Perspektive sprechen und Forderungen stellen. Czollek frühstückt die Hufeisentheorie ab und die billige Kritik an der Identitätspolitik, die an starrer Essentialisierung stehen bleibt. Ein bisschen an Kritischer Theorie geschult, bringt Czollek gern mal seinen Adorno an. Das macht aber für darin unbedarfte nichts, denn der Autor kann schreiben und führt sehr bildliche Beispiele an. Völlig neu sind seine Einsichten nicht, aber überzeugend dargelegt und gerade für Debatteneinsteiger ein guter Griff.
»Coronakontrolle«
Ein Coronabuch, in der Coronakrise, oh nö. Oh doch, denn Georg Seeßlen gelingt es tatsächlich, ad hoc und mittendrin tief über die derzeitige Lage nachzudenken. Natürlich geht es um Corona und Kapitalismus. Seeßlen spielt verschiedene mögliche Szenarien durch und hat zum Beispiel schon im Sommer vermutet, dass der Wert des Menschenlebens bald relativiert wird, wenn das Primat der Ökonomie den kurzen Anflug von Überraschung und Überrumplung durch die Pandemie wieder durchbricht. Wir haben das beim »Lockdown light« schließlich gesehen: Gesellschaftliches Leben wird totgestellt, aber die Arbeitswelt lief weitestgehend – für das, was als relevant identifiziert wurde – weiter.
Natürlich sind das alles Spekulationen, aber informierte. Und etwas Besseres kann man derzeit nicht passieren, als mit diesem Büchlein die aktuelle Situation zu reflektieren; dazu ist es immerhin eine Hilfe. Und in einer Zeit, in der es keine Sicherheit zu geben scheint, ist eine Gewissheit immerhin ein Hoffnungsschimmer, wenn auch kein schöner: »Vielleicht gibt es eine Reihe von Möglichkeiten, sich theoretisch wie praktisch aus der Krisenfalle zu befreien. Eine ›Rückkehr zur Normalität‹ gehört nicht dazu.«