Unzählige Bücher überfluten den Markt. Linn Penelope Micklitz und Josef Braun helfen einmal wöchentlich auf »kreuzer online« bei der Auswahl. Diese Woche erfährt Literaturredakteurin Linn Penelope Micklitz in »Hexen. Die unbesiegte Macht der Frauen« einiges über die Auswirkungen der Frauenverfolgung.
Alles beginnt für die französische Journalistin Mona Chollet mit der literarischen Hexe Flaxa Mildwetter. Die Faszination für diese »Frau von Format« mündet in einer Definition für die Moderne: »Die Hexe verkörpert die von jeglicher Dominanz, von jeglichen Begrenzungen befreite Frau; sie ist ein anzustrebendes Ideal, sie weist den Weg.« Dieser positiv umgedeutete, sich zurück eroberte Begriff der »Hexe« liefert Ausgangspunkt und Zukunftsvision im neuen Buch Chollets.
Eine Kulturgeschichte der Verfolgung von Frauen unter dem Deckmantel des Christentums steht hier als erschreckende Sammlung grausamer Anekdoten vor einer klugen Analyse dessen, was die Massenmorde und Folterungen mit Frauen im Laufe der Jahrhunderte gemacht haben. Und darum stellt Chollet schon zu Beginn klar: »So wird oft der Irrtum begangen, sie im Mittelalter anzusiedeln, beschrieben als eine längst vergangene aufklärungsfeindliche Zeit, mit der wir nichts mehr gemein haben, obwohl die großen Hexenverfolgungen in der Renaissance stattfanden […]. Ebenso werden die Verfolgungen oft einem von perversen Inquisitoren verkörperten religiösen Fanatismus zugeschrieben.
Doch in der Inquisition, die sich vor allem gegen Häretiker richtete, wurden selten Hexen verfolgt; die überwältigende Mehrheit der Verurteilungen erfolgte in Zivilgerichten.« Die Nähe der vermeintlichen Hexen zu den Juden kommt auch nicht von ungefähr, »Hexensabbat« und die charakteristische Hakennase, mit der beide Bevölkerungsgruppen dargestellt werden, sind nur die zwei offensichtlichsten Gleichsetzungen. Auch den Hexenhammer vergleicht Chollet mit Hitlers »Mein Kampf«. »Er wurde vierzehn Mal neu aufgelegt und während der großen Verfolgungen in ganz Europa in dreißigtausend Exemplaren verbreitet.« Die so unterfütterte Erfindung des Hexenmythos fällt ungefähr mit der Erfindung des Buchdrucks Mitte des 15. Jahrhunderts zusammen. Nach all den Schauerlichkeiten, bei denen eine Triggerwarnung an dieser Stelle nachgeholt werden soll, prüft Chollet, wieviel hexenbasierte Frauenverachtung noch in uns steckt. Und schnell wird klar: Den Frauen verhagelt all das die Freiheit, was ihnen im Zuge der Verfolgungen als Lebensentwurf aufgezwungen wurde, wenn sie sich nicht verdächtig machen wollten: Kinder kriegen, häuslich sein, jung bleiben. Denn das Stereotyp der Hexe ist eine alleinstehende, ältere, gebildete Frau ohne Kinder, die beispielsweise als Heilerin oder Hebamme praktizierte.
Dass wir Frauen auch heute noch in ein diametrales Korsett zwingen, — aus dem zweifelsohne zunehmend ausgebrochen wird — unterstreicht für Cholett die Bedeutsamkeit der Hexe als neues Vorbild. Denn in »Wirklichkeit haben wir gerade deshalb, weil die Hexenverfolgungen uns von unserer Welt erzählen, ausgezeichnete Gründe, ihnen nicht ins Auge zu blicken. Das zu wagen bedeutet, sich dem trostlosesten Anblick der Menschheit auszusetzen. Sie veranschaulichen vor allem, wie Gesellschaften beharrlich immer wieder einen Sündenbock für ihr Unglück suchen und sich in einem Kreislauf der Irrationalität festfahren, wie sie jedem vernünftigen Argument unzugänglich werden, bis die Häufung von Hassreden und eine obsessiv gewordene Feindschaft den Übergang zur physischen Gewalt rechtfertigen, die als legitime Verteidigung des Gesellschaftsorganismus wahrgenommen wird.«
Chollets Buch vermag in seiner Schonungslosigkeit alte Wunden aufzureißen, doch zeigt das frische Blut einmal mehr, wie gegenwärtig die Verletzung ist, der ihre Relevanz heute oft abgesprochen wird. In ihrer Kulturgeschichte versammelt sie einen Chor, der das Unrecht nicht länger hinnimmt, und es ist eine Befreiung, diesen Stimmen zu lauschen und nach dem Lesen lauthals einzustimmen.