Vor Kurzem wurde die siebte Broschüre der »Leipziger Zustände« veröffentlicht. Sie informiert über diskriminierende Ereignisse in der Region. Herausgegeben wird sie alle zwei Jahre vom Verein chronik.LE, der faschistische und rassistische Fälle in und um Leipzig dokumentiert. Im Interview sprach Sprecher Steven Hummel mit dem kreuzer über Perspektiven von Betroffenen, dokumentarische Leerstellen und die Auswirkungen der Pandemie.
kreuzer: chronik.LE dient als Plattform für die Dokumentation von faschistischen, rassistischen und diskriminierenden Ereignissen. Was für eine Funktion hat die Dokumentation genau?STEVEN HUMMEL: Unsere Dokumentation ist relativ breit angelegt. Das heißt, wir dokumentieren Schmierereien, Graffiti, Sticker, aber auch Beleidigungen, Bedrohungen bis hin zu körperlichen Angriffen. Der Sinn und Zweck ist es, eine Beschreibung zu haben, was eigentlich los ist in der Stadt und den beiden umliegenden Landkreisen. Und auf Basis dessen in ein eigenes Handeln zu kommen.
kreuzer: Denken Sie, es gibt da einen blinden Fleck in der Öffentlichkeit, dass nicht genug darüber informiert wird?HUMMEL: Ein Gründungsmoment von chronik.LE war, dass Neonazismus und rechte Gewalt nicht als solche benannt und erkannt wurden. Die Vorfälle und Strukturen fallen oftmals hinten runter, werden bagatellisiert oder bekommen nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdient hätten. Wir finden es wichtig, die sichtbar zu machen und sie als das zu benennen, was sie sind.Wir kommen auch manchmal zu anderen Einschätzungen als Behörden wie die Polizei oder der Verfassungsschutz. Für uns ist ganz wichtig, was Betroffene sagen. Und wenn sie sagen: Aus meiner Perspektive war das Diskriminierung oder ein rassistischer Angriff, was ich hier erlebt habe, dann ist das ausschlaggebend.
kreuzer: Ein Schwerpunkt der Broschüre bildet das Phänomen »rechte Raumnahme«. Was bedeutet das? Wie äußert sich die in Leipzig?HUMMEL: Rechte Raumnahme bedeutet, dass sich neonazistische oder andere rechte Akteure gezielt in einem Stadtviertel oder in einer Region versuchen, breitzumachen und den öffentlichen Raum anzueignen. Das kann zum Beispiel passieren, wenn Neonazis an einem öffentlichen Platz abhängen. Das kann aber auch durch Parolen im öffentlichen Raum geschehen oder körperliche Angriffe. Immer in dem Moment, in dem versucht wird, politische Gegnerinnen aktiv aus der Öffentlichkeit zu verdrängen. Ein Beispiel dafür sind die Stadtteile Groß- und Kleinzschocher. Sie haben, was das angeht, einen großen Wandel durchgemacht. Zum Zeitpunkt unserer vorherigen Broschüre 2019 war die Situation da viel schlimmer als heute, weil Neonazis in der Wahrnehmung von Anwohnern eine Dominanz im Stadtteil gewonnen hatten. Das hat sich durch eine regelrechte Flut von Stickern ausgedrückt. Die Motive und Sprüche waren teilweise antisemitisch, klar Bezug nehmend auf den Nationalsozialismus, Neurechte und das Lok-Spektrum. Da haben sich dann Leute aus dem Stadtviertel zusammengeschlossen und überlegt, was sie tun können: Sie haben erst mal die ganzen Sticker abgekratzt und angefangen, sich langfristig in ihrem Stadtteil zu organisieren.
kreuzer: Die letzten Ausgaben thematisieren verstärkt die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. In der neuen Ausgabe gibt es einen Artikel, der sich auch explizit mit dem Umgang von Sexismus in der linken Szene auseinandersetzt. Ist das eine Form der Selbstkritik?HUMMEL: Bei dem ganzen Themenkomplex Sexismus und sexualisierte Gewalt da gab es bei uns so eine Schieflage: Hinsichtlich Neonazismus und Rassismus haben wir viel dokumentiert. Sexismus hat ein bisschen eine untergeordnete Rolle gespielt. Wir wissen, dass das nicht mit der Realität übereinstimmt. Das war eine Leerstelle in unserer Dokumentation. Deswegen haben wir das Thema vor zwei Jahren als Schwerpunkt in der Broschüre gesetzt. Den Text zum Umgang mit Sexismus in der linken Szene haben wir veröffentlicht, weil es in letzter Zeit viele Vorfälle in diesem Zusammenhang gab, sei es die Vergewaltigung im Conne Island oder die Vorwürfe gegen verschiedene Bars und Kneipen. Da haben wir gesagt, es ist wichtig, dass es eine gruppeninterne Auseinandersetzung gibt. Aber auch, dass andere Leute noch mal dazu nachlesen können, was da passiert ist, wie der Diskussionsstand ist und wie sich linke Zentren damit auseinandersetzen.
kreuzer: Neben den Themen Rassismus, Rechtsterrorismus und »rechte Raumnahme« widmen Sie sich in Ihrer Broschüre auch dem Thema Corona. Welche Auswirkungen hat die Pandemie aus Ihrer Sicht auf die gesellschaftliche Situation in Leipzig und Umgebung genommen?HUMMEL: Da kann man sich zum einen die Veranstaltungen, die es in Leipzig zuhauf gab, angucken. Immer wieder gab es da auf Plakaten, Transparenten und in den Reden verschwörungsideologische und antisemitische Aussagen sowie Chiffren zu sehen und zu hören – besonders auf der großen Demonstration am 7. November 2020. Aus unserer Sicht ist das, was die Leute zusammenhält, eine Feindschaft und ein Misstrauen gegenüber politischen Institutionen, Medien und vor allem der Wissenschaft. Zum anderen haben wir versucht zu schauen, welche Gruppen tatsächlich von Corona betroffen sind, die zu stärken und sichtbar zu machen. Dazu gehört ein Interview mit Menschen mit Behinderung, ein Text zu Mieten in der Corona-Zeit und die Situation von Frauenhäusern. Denn selbstverständlich gibt es in der Corona-Krise Personen, die eben deutlich stärker von den Maßnahmen betroffen sind. Deren Perspektive wollten wir sichtbar machen und ihnen eine Stimme geben.