Enno Seifried ist ein Filmemacher auf Umwegen: Erst seine Leidenschaft für verlassene Orte trieb ihn zur Dokumentation. In seinen Filmen geht er auf Entdeckungsreise und wandert dafür auch gern mal durch Deutschland zu Fuß. Der gleichnamige Film, der dabei entstand, kommt nun statt in die Kinos auf DVD und Video on Demand. Der Text stammt aus der Januar-Ausgabe des kreuzer 01/21.
Die Faszination für verlassene Orte lässt Enno Seifried nie los. Ihre Geschichte und die vielen Geschichten, die sie erzählen, begleiten ihn ein Leben lang. »Die Faszination kam durchs Geocaching, liegt aber eigentlich schon in meiner Kindheit. Ich bin ja hier im Leipziger Osten groß geworden, wo eigentlich alles ein Lost Place war und wo wir illegale Techno-Partys veranstaltet haben, mit Clemens Meyer damals«, erinnert sich Seifried.
Zum Film kam er auf Umwegen, widmete sich zunächst der Malerei, arbeitete als Bühnenbildgestalter sowie Licht- und Tontechniker und komponierte Musik für Theater. Durch eine 17.000 Kilometer lange Reise durch Nordamerika verfiel er dem Fernweh, war mehrere Monate in Mexiko unterwegs, fuhr mit dem Fahrrad knapp 5.000 Kilometer von der Ostsee zum Kap Finisterre und durchlief das Velebitgebirge an der Küste Kroatiens.
Seine Leidenschaft für verlassene Orte trieb ihn zur Dokumentation. »Ich war so um 2011 herum noch sehr viel in Lost Places unterwegs und dachte immer, dass es doch unfassbar interessant wäre, wenn man Zeitzeugen dazu interviewt. Aber ich hatte noch nie einen Film gemacht. Dann habe ich mir Geld geborgt, eine Kamera gekauft und bin losgezogen, habe Zeitzeugen gesucht, die ersten Interviews gemacht und bin mit den Leuten durch die Locations gelaufen. Als ich den ersten Film gemacht habe, hatte ich nicht vor, Filmemacher zu werden. Ich wollte einfach mal schauen, wie das läuft. Und es lief ganz gut.«»Geschichten hinter vergessenen Mauern« war das und die Idee der Finanzierung über Crowdfunding war goldrichtig. Sie ermöglichte die Premiere im Sowjetischen Pavillon am 30. März 2012. Seifried hatte einen Nerv getroffen und fand ein dankbares Publikum. In und um Leipzig entdeckte er zudem unzählige architektonisch beeindruckende Bauwerke sowie unterirdische Keller- und Tunnelanlagen, die seit 20 Jahren und länger leer standen und auf Abriss oder Neunutzung warteten. Drei Filme und die Gründung der eigenen Produktionsfirma »Overlight Film« folgten.
Mit der Trilogie »Vergessen im Harz« setzte er das Konzept fort, entdeckte Militäreinrichtungen, ehemalige FDGB-Heime und Fachbetriebe in der Region, die heute in Vergessenheit geraten sind – und verliebte sich in den Harz. »Das ist wirklich eine unfassbar dankbare Region, weil sich nicht viel mit ihr beschäftigt wird.« 2017 drehte er mit »700 km Harz« seine erste Reisedokumentation zu Fuß – eine Reiseart, die ihm nicht fremd war, schließlich lief er bereits vier Monate quer durch Polen bis zur weißrussischen Grenze. Durch seine offene Art öffnen sich Türen. »Auf der Reise trifft man immer wieder Leute, die einen auf leer stehende Hotels oder Sanatorien hinweisen. Manchmal habe ich auch einfach an einer Tür geklingelt und bin so auf Zeitzeugen gestoßen.«
2019 erfüllte er sich dann einen Wunsch, den er schon länger hegte: Für 165 Tage begab er sich auf eine 3.442 Kilometer lange Wanderung durch Deutschland. Sechs Monate lang war er unterwegs von der Nordsee bis in die Alpen, vom nördlichsten bis zum südlichsten Punkt Deutschlands. Dabei entzog er sich bewusst dem Getümmel der Großstädte, nahm immer Verpflegung für vier Tage mit, um durch möglichst wenige Ortschaften zu wandern. Er wollte die Natur erleben. Ihn reizte die Veränderung der Landschaft, vom Meer über das weite Land bis in die Berge. So führte der Weg nicht direkt gen Süden, sondern von der Insel Sylt an der Küste entlang in die Mecklenburgische Seenplatte, die Sächsische Schweiz, über die Eifel bis hin zum Schwarzwald. Dabei zeltete er auch bei Sturm und Regen. Einmal die Woche genehmigte er sich aber auch mal eine Unterkunft. »Das brauchte ich, um warm zu duschen und meine Kameraausrüstung zu laden.« Heraus kam eine persönliche Reise, die weit weg von kitschigen Selbsterfahrungstrips ist. Eine subjektive Sicht auf die Schönheit der Landschaft in prächtigen Bildern, die aber nichts von der polierten Hochglanzoptik einer Drohnen-Doku wie »Deutschland von oben« haben.
Eigentlich sollte auch »Deutschland zu Fuß« ins Kino, den Ort, den er ebenso sehr liebt wie die Natur. Doch Corona machte einen Strich durch die Rechnung. So kommt er nun als DVD und VoD – auch, um das Projekt endlich abzuschließen. Denn weitermachen will Seifried auf jeden Fall. »Ich werde immer wieder von anderen Filmemachern gefragt, ob ich davon wirklich leben kann und wie das läuft, so alleine, ohne Förderung. Die Community ist über die Zeit immer mehr gewachsen. Es gibt immer mehr Leute, die sich für das Thema oder – das klingt jetzt blöd, wenn ich das sage, aber auch für den Typen hinter dem Film interessieren.« So plant er schon ein weiteres »Lost Places«-Filmprojekt. Und in die Eifel würde er auch gern noch einmal zurückkehren – dieses Mal am liebsten mit trockenen Füßen.