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Kultur

»Moby Dick« oder Taschenlampe?

»Und morgen streiken die Wale« bittet das Publikum um entscheidende Mithilfe

  »Moby Dick« oder Taschenlampe? | »Und morgen streiken die Wale« bittet das Publikum um entscheidende Mithilfe

»Der Bruder und die Schwester, die Hand in Hand gehen, wer sind sie?« Man kommt sich zwischenzeitlich wie Ödipus vor der Sphinx vor, wenn man Mel ins Abenteuer folgt. Immerhin heißt es »Leben oder Tod« für die junge Frau, die einen Wal vorm Stranden retten will. Und dabei auf die Hilfe des Publikums angewiesen ist. Knifflige Sache also.

»Interaktiv« hat das Theater der Jungen Welt (TdJW) sein Stück »Und morgen streiken die Wale« genannt. Nun kennt man das Label schon lange, ist Interaktivität eine der Anrufungen wie Anmaßungen dieser Zeit. Immer soll man irgendwie mitmachen – nur nie richtig. Im TdJW hat Regisseurin Johanna Zielinski diesen selbstgesetzten Anspruch mit relativ wenig Aufwand fürs Publikum eingelöst, dieses ohne Anbiederung ins Geschehen eingebunden und Mel als Ratgebende zur Seite gestellt.

Via Zoom-Konferenz versammeln sich die rund 80 Zuschauenden. Der leere Bühnenraum ist zu sehen. Es knarzt elektronisch in die Schwärze, unterirdisch, na ja, beim nautischen Thema wohl er unterseeisch. Auf jeden Fall unheimlich. Eine junge Frau tritt auf, lacht kurz in die Kamera. Dann wird das Publikum aufgerufen, sich in der Galerie-Ansicht zuzuwinken, was das Gefühl verstärkt, nicht allein vorm Rechner zu sitzen.

Dann verschwindet die Galerie der winkenden Mini-Torsos. Schnitt, die Vorstellung beginnt. Julia Sonntag spielt live und wird dabei gefilmt. Einzelne Ecken im sonst dunklen Raum werden zu Spielorten wie Strand und Schlauchboot, die sie bei Bedarf aufsucht. Ihre Mel ist eine toughe junge Frau, die sich traut, für sich und ihre Ideale einzutreten. Als sie hört, dass Wale in der Nähe ihres Wohnorts gestrandet sind, hält sie nichts mehr auf. Sie macht sich zu deren Rettung auf – das Abenteuer beginnt.

Mel interagiert mit Figuren, die vorher aufgezeichnet wurden. Deren Szenen sind mit einem Comic-Effekt überzogen, wirken also wie mit schnellen Strich hingezeichnet. Das sieht ziemlich cool aus und schafft dichte Stimmung. Noch ein Blaulicht hier, ein Meeresrauschen (auf dem Drumfell erzeugt) und die Atmosphäre ist perfekt. Das Liveschlagzeug erzeugt auch Spannung, indem es jedes Mal wie in einer Quizshow eine dramatische Melodie anschlägt, wenn Mel die Zuschauenden um Mithilfe bittet. Die mischen mittels Abstimmungsfunktion tüchtig mit. Soll Mel mit dem fremden Alten sprechen, dem fiesen Vorarbeiter vors Bein treten oder doch lieber das Weite suchen? Es gibt Rätsel, technisches und mathematisches Wissen sind gefragt. Aber natürlich wird es nicht zu kompliziert, es ist ja für junge Menschen gemacht.

So entwickelt sich entlang der enthusiastisch-sympathisch spielenden Julia Sonntag – die schon mal ignorante »Selfie-Tussis« von den Walen verscheucht – ein unterhaltsames Abenteuer, quasi ein kleines Rollenspiel, in dem sogar wie beim digitalen oder analogen Charakterbogen ein Inventar beigefügt ist: Soll Mel die Taschenlampe einschalten, »Moby Dick« lesen oder jemanden mit dem Absperrband knebeln? Das ist ziemlich fesselnd und der Mitmachkrimi geht über die gute Stunde prima auf. Selbst wenn man kurz vor der Sphinx steht. PS: »Mensch« ist die falsche Antwort auf die eingangs gestellte Frage.


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