Man dachte ja, man – und in diesem Fall muss es wirklich heißen: Frau – sei schon weiter in Sachen Gerechtigkeit unter den Geschlechtern. Doch auch in Leipzig zeigt sich, dass Frauen in Führungspositionen und an der Macht stark unterrepräsentiert sind, egal ob im Stadtrat, an der Uni oder sogar bei den Erziehungsjobs. Woran liegt das und was kann man tun? Ein erster Schritt ist, das Problem sichtbar zu machen, darin sind sich alle Protagonistinnen einig. Here we go. Die Titelgeschichte aus dem kreuzer 05/21.
»Ah, okay, Frauenthema«Michael und Andreas sind die häufigsten Namen im Leipziger Stadtrat. Ist dieser bereit für feministische Politik?
Als die Stadträtin der SPD, Christina März, per Videozuschaltung auf meinem Bildschirm auftaucht, passiert etwas Ungewöhnliches: Ich identifiziere mich mit der Politikerin. Genau wie ich ist sie jung und weiblich. Damit entrückt sie dem durchschnittlichen männlichen Politiker um die 60, nennen wir ihn Michael oder Andreas – so die häufigsten Vornamen im Leipziger Stadtrat. März und ich plaudern vor dem Interview ein paar Minuten und ich denke: So muss es sich also anfühlen, sich mit einflussreichen Menschen auf
Augenhöhe zu unterhalten. Womöglich ist dieses Gefühl aber auch meiner plötzlich entdeckten Fähigkeit, Small Talk zu betreiben, geschuldet. Oder ist es Teil einer selbst erfüllenden Prophezeiung, nachdem ich mich so intensiv mit spiegelbildlicher Repräsentation beschäftigte? Das sei dahingestellt. März findet: »Wenn wir mehr Frauen wären, würden wir Debatten ganz anders führen.«
Die politische Theoretikerin Hannah Pitkin schrieb in den Sechzigern das Buch »The Concept of Representation«, das heute zum Standardrepertoire der Politikwissenschaft gehört. Eine spiegelbildliche Repräsentation ist ihrer Meinung nach nicht notwendig. Es könne auch ein Stadtrat voller weißer, akademisierter Männer Entscheidungen treffen, die im Interesse aller sind. Wichtig sei allein die Responsivität, also inwieweit sich politische Entscheidungen mit den Interessen der Bürger deckten. Die Kritik von feministischer Seite folgte bald: Eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den Repräsentanten und den Bürgern sollte es schon geben. So erklärt der Responsivitätsforscher Armin Schäfer 2019 in einem Vortrag an der Universität Witten-Herdecke, dass für das, was entschieden wird, es nicht völlig irrelevant sei, wer die Entscheidung trifft.
Die Stadträtin der Linken Beate Ehms hat mitgezählt. Während einer Stadtratssitzung führte sie Strichlisten, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie oft Frauen und wie oft Männer zu Wort kommen. Frauen haben demnach einen Redeanteil von 25 Prozent, sind jedoch auch in der Minderheit: Derzeit bemisst sich der Frauenanteil im Leipziger Stadtrat auf 33 Prozent. Laut dem »Genderranking Deutscher Großstädte« von 2017 würde es, folgt man der Entwicklung von 2008 bis 2017, noch 128 Jahre dauern, bis eine paritätische Besetzung kommunaler Ratsmandate erreicht wäre. Leipzig belegte den Platz 36 von 73. Um herauszufinden, wann sich Repräsentation in Macht verwandelt, fragen Politikwissenschaftler nach den »critical actors«, also jenen Politikern, die in einflussreichen Ämtern sind. Eine Leipziger Oberbürgermeisterin gab es noch nie.
Die Stadträtin der Grünen Nuria Silvestre sagt: »Überlegen Sie einfach mal, wie diese 33 Prozent zusammenkommen. Wenn ich abends noch auf meine Kinder aufpassen muss und fast 90 Prozent der
Alleinerziehenden Frauen sind, was soll ich dann in der Politik?« Das Amt der Stadträtin ist ein Ehrenamt. »Am Ende geht es nicht nur um Geschlecht, sondern auch um Klassismus«, meint Silvestre. Die monatliche Aufwandsentschädigung besteht aus einem Grundbetrag von 543,80 Euro. Dazu gesellen sich eine Mobilitätspauschale, etwa in Höhe einer Monatskarte, sowie Zahlungen von circa 200 Euro pro monatlicher Stadtratssitzung, die sich über zwei Tage zieht, und kleinere Beträge für zum Beispiel Gremienarbeit. »Deswegen kann davon eigentlich keiner leben. Es ist ja nicht so angedacht, dass wir das hauptamtlich machen, sondern wirklich neben der beruflichen Tätigkeit«, sagt Ehms. Aber geht das auf? »Täglich kommt man auf bestimmt drei Stunden. Neben der reinen Sitzungszeit kommt noch dazu: Vorbereitung, Nachbearbeitung, E-Mails, Telefonate, und das geht auch über den ganzen Tag. Es ist nicht so, dass es heißt, Frau Ehms arbeitet von acht bis siebzehn Uhr und danach kann man sich bei ihr melden, sondern das
Ehrenamt geht permanent«, sagt sie.
Wenn man Leipziger Stadträtinnen fragt, ob es eine weibliche Solidarität untereinander gebe, denn antworten sie unterschiedlich. Angefragt hat der kreuzer Stadträtinnen aus allen Parteien außer der AfD, denn deren Anträge stehen regelmäßig Interessen von Frauen und diversen Personen entgegen. Ehms erzählt: »Mit der Stadträtin von der AfD, ha, da gibt es einfach keine Zusammenarbeit. Die haben mehrere Anträge gestellt, um die Mittel für Gleichstellung zu kürzen oder einzufrieren.« Die Fraktion der Freibeuter hat keine Stadträtinnen, die CDU reagierte nicht auf unsere Anfrage.
Als Meilenstein in der feministischen Stadtpolitik gilt bei den Stadträtinnen die Charta für Gleichstellung, eine öffentliche Absichtserklärung der Kommune, geschlechterspezifischer Diskriminierung und Gewalt entgegenzutreten. Außerdem das Caroline-Neuber-Stipendium, das seit letztem Jahr vergeben wird, und zwar ausschließlich an Frauen im Theaterbereich. Ehms erklärt auch die mittelbaren Beschlüsse zu Meilensteinen, wie Ermäßigung von Kitagebühren für Alleinerziehende. Ebenfalls bemerkenswert sei der Louise-Otto-Peters-Preis, der abwechselnd an Einzelpersonen oder Organisationen vergeben wird, die sich für Geschlechtergerechtigkeit einsetzen. »Aber wir müssen eben stärker dazu kommen, dass wir hinterfragen, wie wir Strukturen betrachten. Warum betrachten wir sie so? Also welches statistische Material legen wir zugrunde?«, fragt März. Wenn es um Stadt- oder Verkehrsplanung geht, sollten auch geschlechterspezifische Daten vorliegen. Frauen sind die Hauptnutzerinnen von öffentlichen Verkehrsmitteln und haben ein anderes Sicherheitsgefühl. Feministische Stadtpolitik hieße somit, diese Bedürfnisse ernst zu nehmen und in die Erscheinungsform einer Stadt zu implementieren – etwa für Straßen- oder Parkbeleuchtung zu sorgen. »Feministische Stadtpolitik heißt natürlich auch, Maßnahmen gegen häusliche Gewalt oder Femizide durchzuführen. Da haben wir auch schon viel gemacht, wir haben jetzt das vierte Frauenhaus«, erklärt Ehms. Im Vergleich: Dortmund, mit ähnlich vielen Einwohnern, weist nur ein Frauenhaus auf.
Stadtpolitik stößt oft an ihre Grenzen. So steht im Leipziger Gleichstellungsplan etwa, dass zwar mit einigen städtischen Akteuren Kriterien erhoben wurden, um sexistische Werbung zu klassifizieren – eine gesetzliche Regelung gibt es jedoch nicht. Bisher sind 301 sexistische Werbungen in Leipzig und Umgebung bei der Organisation Pinkstinks, die 2017 den Louise-Otto-Peters-Preis gewann, gemeldet worden. »Wenn es städtische Ausschreibungen für Werbung an Fahrgastunterständen gibt, würden wir gern in die Verträge hineinschreiben, dass keine sexistische Werbung aufgehängt werden darf. Da fehlt jedoch eine Gesetzesgrundlage im Bund«, sagt Ehms. Das macht die Leipziger Bemühungen zu einem zahnlosen Tiger. Eine exemplarische Sichtung der Beschlüsse des Stadtrats der letzten Monate zeigt jedoch auch: Die meisten Anliegen, die explizit im Interesse von Frauen sind, werden auch beschlossen. März meint aber: »Ich habe manchmal das Gefühl, dass, wenn man zu offensichtlich reinschreibt, dass ein Antrag Fraueninteressen betrifft, es politische Mehrheiten gibt, die da abschalten. Von wegen: Ah okay, wieder so ein Frauenthema, weil wir es eben nicht in diesem ganzheitlichen Ansatz sehen.« In diesem Ansatz gehe es um die Stadtgesellschaft. Wenn der öffentliche Nahverkehr verbessert wird, kommt das statistisch betrachtet eher Frauen zugute, letztlich aber auch allen anderen. LEZ
Chefinnen in UnterzahlNicht nur im Baugewerbe, auch bei Bildungsberufen gibt es zu wenig Frauen in Führungspositionen
Der Bau ist für Männer, die Kita für Frauen. Das ist nicht nur ein Klischee – wie auch in Leipzig die Zahlen klar zeigen. Den 917 in kommunalen Kitas als Fachpersonal arbeitenden Frauen stehen 116 Männer gegenüber. Im Baugewerbe sind es 1.541 Frauen zu 10.514 Männern. Woran das liegt und was man ändern kann, hat der kreuzer bei den Gewerkschaften erfragt, die Sektoren der Arbeitswelt mit besonders gravierenden Geschlechterunterschieden betreuen.
»Bundesweit liegt der Frauenanteil in unseren Branchen laut Statistischem Bundesamt bei 19,25 Prozent. In den von der IG Metall Leipzig betreuten Betrieben liegt er bei 16,28 Prozent«, sagt Gewerkschaftssekretär Steffen Reißig. »Das ist natürlich nur bedingt zu vergleichen, aber es zeigt eine Tendenz. In den 1990er Jahren haben nachweisbar mehr Frauen als Männer ihren Arbeitsplatz verloren, was auch die Metall-
und Elektrobereiche betroffen hat.« Und auf dem leer gefegten Arbeitsmarkt konnten sie auch schwerer Fuß fassen. Reißig zufolge hält besonders die in den Produktionsbetrieben übliche Schichtarbeit Frauen fern. Denn sie erschwert die Vereinbarkeit von Familie und Arbeit. Zwar böten einige Betriebe ihren Beschäftigten Kinderbetreuungsplätze, aber zu wenige. »Die IG Metall setzt sich für passgenaue Arbeitszeitmodelle ein, die die Themen Vereinbarkeit, Teilzeit in der Schicht und gute Vertretungsregelungen mit berücksichtigen.« Als nicht orts- und branchenspezifische Themen nennt Reißig die Lohnsteuerklassenkombination 3 und 5, die das Aufstocken der Arbeitszeit oder die Rückkehr in den Beruf gerade für Frauen wenig attraktiv macht. Und Diskriminierung: »Jede sechste Frau wurde bereits am Arbeitsplatz sexuell belästigt. Wir brauchen mehr Betriebsvereinbarungen, die partnerschaftliches Verhalten am Arbeitsplatz fördern und regeln. Unser Ziel ist ein respektvolles und solidarisches Miteinander von Frauen und Männern. Das heißt auch, Grenzen wahrzunehmen und zu akzeptieren.«
Reißig fordert »Quotenregelungen und Zielvorgaben für alle Führungsebenen – angefangen bei der Technikerin bis hin zum Vorstand. Wir müssen einen Kulturwandel schaffen: mehr Wahlfreiheit, mehr Partnerschaftlichkeit, mehr Zeit für Freizeit und Leben.« Das sei nicht nur im Sinne der Gerechtigkeit, sondern sogar wirtschaftlich, sagt der IG-Metall-Sekretär: »Unsere Kolleginnen – und übrigens auch Kollegen – berichten, dass es natürlich einen Unterschied macht, wie hoch der Anteil von Frauen ist. Gemischte Teams führen in der Regel zu einem besseren Arbeitsklima. Studien belegen übrigens, dass gemischte Teams innovativere und bessere Ergebnisse erzeugen.«
Bei der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) sind Frauen bundesweit zu 70 Prozent vertreten. Dennoch sind auch im Bildungsbereich Frauen bei den Leitungspositionen unterrepräsentiert, so die GEW-Gleichstellungsbeauftragte Alexandra Hanke. Besonders groß ist der Unterschied im Kultusministerium und beim Landesamt für Schule und Bildung, wo auch wichtige Personalentscheidungen getroffen werden. »Das mag zum einen daran liegen, dass sie sich weniger von Machtpositionen angesprochen fühlen«, sagt Hanke. Wesentlicher aber sei, »dass Teilzeitbeschäftigung bei Frauen eine viel größere Rolle spielt. Dies hat Auswirkungen auf die Teilhabe an Führungspositionen, denn bisher ist es nicht möglich, dass solche auch doppelt besetzt werden können.« Sie wünscht sich daher Teamstrukturen auch auf Führungsebenen. Sonst könnten gerade bei den Grundschulen künftig die Leitungspositionen nicht mehr besetzt werden.
Hanke kritisiert zudem die mangelnde Anerkennung von Pflege- und Bildungsberufen. »Erst in der jetzigen Krisensituation ist uns allen bewusst geworden, wie groß ihr Stellenwert tatsächlich ist. Viele der systemrelevanten Berufe sind schlecht bezahlt, aber einem hohen Risiko ausgesetzt.« Da könne es nicht beim Beklatschen bleiben. Auch unbezahlte Carearbeit brauche eine Aufwertung durch Lohn- oder Arbeits-
zeitausgleich. Neben höheren Löhnen für ihren Bereich fordert die GEW-Funktionärin auch »bessere Arbeitsbedingungen: mehr Personal, geringere Arbeitszeit, bessere Ausstattung. Zudem ist eine Überarbeitung des Frauenfördergesetzes von 1994 in ein zeitgemäßes Gleichstellungsgesetz in Sachsen dringend erforderlich!« TPR
Die verschwundenen 30 ProzentEs studieren mehr Frauen als Männer. In der Besetzung der Professuren schlägt sich das aber nicht nieder
Wenn Kinder aufgefordert werden, Wissenschaftler zu zeichnen, malen sie typischerweise Männer in weißen Kitteln. Dies zeigen die seit Jahrzehnten fortlaufenden »Draw-A-Scientist«-Studien. Die Assoziation von Wissenschaft und Männlichkeit – »das sind sozial geteilte Vorstellungen«, sagt Andrea Kloschinski.
Die Philosophin fertigte für Deutschland eine Bestandsaufnahme an und beantwortete dabei die Frage, warum Frauen in der akademischen Welt – und besonders der Philosophie – unterrepräsentiert sind.
Derzeit studieren an der Universität Leipzig zu 60,4 Prozent Frauen und zu 0,1 Prozent diverse Personen. Es stünden somit vermutlich genug Frauen Schlange, um einen wissenschaftlichen Beruf zu ergreifen. Blickt man die akademische Karriereleiter hoch, verschwinden diese Menschen. Nur 27,5 Prozent der Professuren sind weiblich besetzt, so die zuletzt veröffentlichten Zahlen von 2019. Damit liegt Leipzig mit anderthalb Prozentpunkten über dem deutschlandweiten Durchschnitt. Warum ist das so?
»Es geht um die Überlegungen, dass die Stereotype von Frau und Wissenschaftler nicht miteinander übereinstimmen. Und ja, auch Frauen haben diese Stereotype«, erklärt Kloschinski die Unterrepräsentanz von Frauen. Das Konzept der »Clash of Schemata« stammt ursprünglich von Virginia Valian, einer US-
amerikanischen Professorin für Psychologie. Wenn man Menschen nach Adjektiven für die Beschreibung der »Frau« fragt, nennen sie Wörter wie fürsorglich, intuitiv und empathisch. Währenddessen laute das Schema für »Wissenschaftler« intelligent, brillant, rational oder effizient. »Jetzt könnte man die einzelnen Disziplinen durchgehen und sich überlegen, wo das vielleicht nicht stimmt. Vermutlich könnte in der Erziehungswissenschaft der Clash der Schemata nicht so ausgeprägt sein«, erklärt Kloschinski. Tatsächlich fällt in den Bildungswissenschaften an der Universität Leipzig das Geschlechterverhältnis an Professuren zugunsten von Frauen aus. Dagegen sind nur zwei von zehn Professoren am Philosophischen Institut weiblich.Die Bestandsaufnahme von Kloschinski zeigt, dass die akademische Philosophie in puncto Geschlechterverhältnis eher den Naturwissenschaften gleicht als den Geistes- oder Sozialwissenschaften. Untersuchungen hätten nachgewiesen, dass in den Fächern, in denen der Männeranteil besonders hoch ist, auch die Assoziation mit einem gewissen Geniekult besonders hoch ist. Damit ist die Annahme gemeint, um ein guter Philosoph zu sein, brauche es etwas ganz Bestimmtes, das man nicht lernen könne. Eine besondere Brillanz. Das betrifft nicht nur die Philosophie. In dem Fach komme jedoch hinzu: In Seminaren oder bei Konferenzen ist das Klima häufig sehr konfrontativ.
»Philosophen sind Personen, die sich gerne streiten und die erst einmal dagegenhalten. Es geht ja bei uns in dem Business schon auch einfach um Kritik«, sagt Kloschinski. Philosophische Diskussionen erinnerten allein in der Beschreibung regelrecht an eine Schlacht. »Das ist für Frauen insofern problematisch, wenn sie dem weiblichen Stereotyp entsprechen, eher gemeinschaftsorientiert sind und Harmonie wertschätzen. Dann werden sie in der Philosophie vermutlich nichts werden oder auch keinen Spaß daran haben.« Wenn sie aber das Spiel mitspielen, dann – und das ist auch empirisch gut belegt – würden sie häufig als dominant, bossy, unsympathisch oder vorlaut wahrgenommen. Dieser sogenannte »Double Bind«-Effekt offenbart eine Misere: Entweder gelten Frauen als inkompetent oder unbeliebt.
Insbesondere Ersteres zeige sich darin, dass Frauen bei objektiv gleicher Leistung schlechter bewertet werden. »Natürlich ist es schwierig zu sagen: Was ist gleiche Leistung? Aber wenn man in einem Experiment identische Lebensläufe hat, bei denen nur der Name variiert, kann man natürlich sagen, das ist dieselbe fiktive Person, die hier bewertet wird.« Studentische Lehrevaluationen offenbaren das gleiche Phänomen: Weibliche Lehrpersonen werden systematisch schlechter bewertet – sowohl von männlichen als auch von weiblichen Studierenden. Das betrifft die Lehrperson bis hin zum Lehrmaterial. Das Muster beginnt jedoch schon früher im Studium: »Wenn jeder Vortrag oder jede Wortmeldung im Seminar weniger genial bewertet wird, dann wirkt sich das natürlich negativ auf Chancen aus.«
Vernachlässigt bleiben dabei die Dimensionen wie Rassifizierung, Geschlechter außerhalb des Dualismus von Mann und Frau oder der soziale Hintergrund. »Das ist sicherlich in meinen Überlegungen nicht berücksichtigt gewesen«, gesteht Kloschinski. Es sei ein Riesenproblem, dass alles, was vom Schema des Wissenschaftlers abweicht, auch als ebendiese Abweichung wahrgenommen werde. Neben dem erläuterten Clash der Schemata spielt bei der Unterrepräsentanz von Frauen und diversen Personen auch unbezahlte
Care-Arbeit eine Rolle. Arbeiten wie die Kinderbetreuung oder das Kochen gelten gesellschaftlich als notwendig, werden aber wie selbstverständlich vorrangig von Frauen übernommen. Diese »typische Frauenarbeit« bleibt meist unsichtbar, umfasst jedoch ein Drittel der im Bruttoinlandsprodukt ausgewiesenen Wertschöpfung. »Nach wie vor ist die Vereinbarkeit von Familie und Studium/Beruf eine große Herausforderung für Frauen. Gerade im letzten Jahr wurde durch die Pandemie und die Schließung der Schulen und Kitas eine enorme Doppelbelastung von Frauen getragen«, erklärt Georg Teichert, Gleichstellungsbeauftragter der Universität.
Wäre es hinnehmbar, dass Frauen sich einfach dieser sozialisierten Rolle hingeben? Ist es überhaupt wichtig, wer unser Wissen generiert? »Ich finde die Frage schwierig«, sagt Kloschinski. »Man kann sagen, je homogener die Gruppe ist, die sich um Erkenntnisgewinn bemüht, desto stärker werden systematisch Perspektiven ausgeblendet. Wir sind unterschiedlich sozialisiert, haben unterschiedliches Wissen und gehen unterschiedlich an Probleme heran.«»Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass es da in vielen Bereichen einfach zu höchst problematischen und zum Teil ganz skurrilen Ergebnissen kommt, wenn keine Frauen beteiligt sind.« So illustriert die Autorin Caroline Criado-Perez in ihrem Buch »Unsichtbare Frauen« die riesige Datenlücke, die entsteht, wenn Männer die Welt für alle Geschlechter erforschen und entwerfen. So sind einige Alltagsgegenstände nicht auf die durchschnittlichen Bedürfnisse und die Physiologie von Frauen angepasst, bis hin zur falschen Dosierung von Medikamenten. »In der Philosophie finde ich das schwierig, wir kreieren ja keine Arbeitskleidung und müssen wissen, wie groß sie sein soll, sondern bei uns geht es ums Denken. Es ist problematisch zu sagen, Frauen denken anders als Männer«, meint Kloschinski. Während Frauen zwar andere Interessen haben könnten, etwa feministische Philosophie stärker vertreten, fehlen die empirischen Evidenzen, dass die Abwesenheit von Frauen etwa den Erkenntnisgewinn in der Logik schmälere. »Für mich ist das Gerechtigkeitsargument für Diversität stärker als das erkenntnistheoretische Argument«, sagt Kloschinski.
Um der Gerechtigkeitsfrage Genüge zu tun, sind bereits einige Quoten-Vorschläge gemacht worden, wie etwa von der Philosophin Christine Bratu im Rahmen einer feministischen Vorlesungsreihe an der Universität Leipzig. Denkbar sei demnach eine schwache Quote, die bei gleicher Leistung Frauen oder diverse Personen bevorzuge, oder aber eine harte Quote, die ernst nehme, dass etwa aufgrund von Care-Arbeit nicht-männliche Personen weniger Publikationen aufweisen können. Man lege dann eine Mindestanforderung an die ausgeschriebene Stelle fest, die, sobald erfüllt, Bewerbungen von marginalisierten Personen privilegiert. Wenn eine höhere Repräsentation dafür sorgt, Stereotype abzubauen, dann spricht dies für die Quote, findet Kloschinski. Dies sei jedoch eine empirische These. »Wenn das nicht stimmt, dann haben wir da kein Argument dafür.« Wobei vermutlich das Argument der Chancengleichheit in der Diskussion nicht zu unterschätzen ist. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz verwehrt derzeit eine Quotenregelung. LEZ