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Literatur

Zigaretten und Zauberer

In »Daheim« entfaltet Judith Hermann ihre ganze erzählerische Kunst

  Zigaretten und Zauberer | In »Daheim« entfaltet Judith Hermann ihre ganze erzählerische Kunst

Unzählige Bücher überfluten den Markt. Linn Penelope Micklitz und Josef Braun helfen einmal wöchentlich auf »kreuzer online« bei der Auswahl. Diesmal liest Familienredakteur Josef Braun Judith Hermanns neuen Roman »Daheim«. Der steht auch auf der Nominiertenliste für den diesjährigen Leipziger Buchpreis.

Der Roman beginnt mit einer Kurzgeschichte. Die namenlose Erzählerin, eine Frau in ihren Fünfzigern, erinnert sich daran, wie sie nach der Schulzeit in einer Zigarettenfabrik arbeitete. Eines Tages begegnet ihr in einer Tankstelle ein Mann, der sich als Zauberer vorstellt und sie bittet, seine Assistentin zu werden. Die Kiste des Zauberers, in die die Erzählerin dann tatsächlich steigt, ist eines der Motive, die sich durch Judith Hermanns zweihundert Seiten starken Roman »Daheim« ziehen. Der vollzieht nach dem Einstieg einen großen zeitlichen Sprung. Dreißig Jahre später lebt die Erzählerin »an der östlichen Küste und in der Nähe meines Bruders«. Ihre Tochter Ann ist ausgeflogen und schickt nun Koordinaten aus der ganzen Welt. Der Mann Otis so mit sich beschäftigt, dass die Erzählerin das gemeinsame Berliner Leben hinter sich gelassen hat.

[caption id="attachment_124802" align="alignright" width="159"] Daheim; Cover: Fischer Verlag[/caption]

An der Küste schließt sie neue Bekanntschaften. Da ist die Nachbarin Mimi, eine Künstlerin, deren Kunst am Ende über dem Esstisch der Eltern landet. Da ist Mimis Bruder Arild, ein wortkarger Schweinezüchter und da ist ihr eigener Bruder, der sich mit Mitte sechzig in ein ehemaliges Heimkind verliebt, das mindestens vierzig Jahre jünger ist. Jede*r von ihnen ist mit sich beschäftigt, leidet auf seine eigene Weise. Die Sprache, in der das erzählt wird, ist ruhig, im Nebeneinander der Sätze kommt rasch Melancholie auf. Wie kaum eine andere deutsche Autorin versteht Judith Hermann es, Atmosphäre zu erzeugen. In ihrem Buch entfalten Erzähl- und Dialogpassagen einen so starken Sound, dass man sich beim Lesen nur schwer entziehen kann. Die meisten Wahrheiten über das Leben der Figuren liegen sowieso dazwischen, in nebenbei geäußerten Halbsätzen, in kleinen Gesten. Häufig können sie über das, was sie eigentlich beschäftigt, nicht miteinander reden, manchmal wollen sie es auch gar nicht. Und doch sind sie nicht abseits der Welt. Immer wieder bricht unsere moderne Zeit mit großer Wucht in den Roman ein. Und spätestens hier zeigt sich, wie sehr die Autorin ihren Stoff beherrscht. Unter ihrer Hand fügt sich alles zu einem flüssigen, dicht gewobenen Text, in dem die unterschiedlichsten Dinge gleichzeitig bestehen können. Solche Prosa zu lesen, ist wie gute Musik zu hören. Nach dem Ende möchte man sofort auf Repeat drücken.


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