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Kultur

Guckkastenbude

Immersiv, überraschend, hilflos dilettantisch: Das unfreiwillige Nachbarschaftstheater

  Guckkastenbude | Immersiv, überraschend, hilflos dilettantisch: Das unfreiwillige Nachbarschaftstheater

Die Corona-Pandemie hat das kulturelle Leben zum Erliegen gebracht. Festivals wurden verschoben, Online-Formate bieten nur bedingt Ersatz. Unser Autor Tobias Prüwer stieß im Alltag auf ein sein ganz persönliches Nachbarschaftstheater.

Plötzlich tat sich was auf dem Hinterhof, zwei Männer breiteten Bretter großflächig aus – als sie damit fertig waren, fing der Regen an. Sie flüchteten. Halb sieben, kurz vor der Dämmerung begannen sie, das Holz zu einer Hütte zusammenzubauen. Da sich das nicht einfach fügte, riefen sie Verstärkung. Zu fünft werkelten sie im Autoscheinwerferlicht am Verschlag herum, schauten nach Stunden sogar mal in die Aufbauanleitung und gaben beim Dach dann auf. Das musste bis zum nächsten Tag warten. Natürlich blieben Teile übrig. Was wohl aus diesem Stück hilflosem Dilettantismus noch werden würde?

Ach, was muss derzeit nicht alles als Theaternotnagel herhalten? Die Corona-Maßnahmen sollen (Stand Redaktionsschluss) bis zum 9. Mai anhalten – ob sich die Häuser überhaupt Hoffnungen darauf machen, diese Spielzeit noch mal drinnen zu gestalten? All den Aufwand wagen für vage Öffnungsperspektiven? Das Festival »Off Europa« wurde in den Herbst verlegt. Tapfer halten die Akteurinnen mit Digitalformaten dagegen, aber alle wollen wieder live Theater erleben. Man kann nur aufs Wetter hoffen. Wer hätte gedacht, dass sich ein Kritiker mal aufs Sommertheater freut?

Zwischendurch sind es die Alltagsdramen wie der Dilettantismus eingangs erwähnter Hüttenbauer, mit denen sich der voyeuristische Theaterguckerblick begnügen muss. Zumal die Ausgangsbeschränkungen zum Hocken am Fenster verdammen. Da wird die Nachbarschaft notgedrungen zur Theatergemeinschaft – mit vielerlei Spielarten.

Zum Quiz laden die Obermieter. In ihrer Hit- und Mitraterunde spielen sie Songs nur an oder singen Refrains. Das ist dramaturgisch dünn, aber nicht erkenntnisfrei: Die Raterunde in der Etage unter ihnen wundert sich, dass Nirvana auch bei 20-Jährigen noch zieht und Skate-Punk seit den Neunzigern keine Veränderung erlebt hat. Und welche Scharade führen sie da eigentlich körperlich auf: Möbelrücken oder Topfschlagen mit Kanthölzern?

Geradezu immersiv gehts zu, wenn kurz vor Mitternacht die Ordnungspolizei zu viert vor der Wohnungstür steht. Bühne und Zuschauerraum lösen sich auf, sie vermuten wegen der Lautstärke eine illegale Party. Nach einigen interaktiven Szenen stellt sich heraus, dass sie sich in der Adresse geirrt haben und eine WG im Eckhaus nebenan meinten. Leider bleibt diese Theaterepisode aufgrund des offenen Endes zu nebulös, manchmal sind etwas mehr Text und Kontext doch besser.

»Was machen denn Dick und Doof da?« Der Toilettensitzer schaute nicht schlecht, als sich auf der Hauswand gegenüber plötzlich die beiden Stummfilmgesellen Slapstickereien lieferten. Die Schaubühne hat mit ihrem mobilen Lichtspieltheater die Viertel abgeklappert und Dunkelheit erhellt.

Die Bühne auf dem Hinterhof erweist sich dann als Guckkastenbude und begehbare Installation zugleich. Hier zog ein »Coronatestcenter« ein. Schon auf der Karl-Liebknecht-Straße zieht es eine Menschenschlange an, die durch einen Hauseingang auf den Hof weitergeleitet wird. Ein überraschender Aha-Effekt für die Anstehenden, haben sie doch vorab online einen Termin gebucht, um nicht warten zu müssen. Marsmännchen ähnliche Gestalten, in Overall, aber ohne Visier, bitten den Glücklichen, der endlich an der Reihe ist, auf einen Barhocker vor der Bude und machen den Abstrich. Hernach schlendern die fertig Getesteten über einen Parkplatz von dannen – ihr Ergebnis bekommen sie digital. Da gab es jetzt eine Datenlücke und persönliche Daten von Tausenden landeten im Netz. Es bleibt spannend, das Nachbarschaftstheater.

Dieser Text erschien zuerst in der Mai-Ausgabe des kreuzer 05/21.


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