Leipzig sollte aus den Defiziten der Corona-Zeit lernen - egal ob im Park, bei der Digitalisierung oder im Verkehr. Wie wollen wir leben? Was kann man aus den Erfahrungen der letzten Monate lernen? Der kreuzer hat ein paar Ideen zusammengetragen. Hier veröffentlichen wir die aktuelle Titelgeschichte der Juni-Ausgabe des kreuzer.
Innenstadt ohne Handel
Von Trimm-dich-Pfaden bis zu Skulpturen: Wie der öffentliche Raum gestaltet werden sollte
Vor einem Jahr erklärte Burkhard Jung in seiner Funktion als Präsident des Städtetages in einem Zeitungsinterview: »Ich bin sehr gespannt, was sich im Kaufverhalten und im Sozial- und Kulturverhalten durch Corona verändern wird.« Dabei ging es vor allem um die Innenstädte, deren Kultur-, Gastro- und Handelsangebote. Sein Rezept bestand aus mehr Wohnen und Arbeiten, um eine Belebung abseits von Online-Handel und dem Sterben von Kaufhäusern herbeizuführen. Ein Jahr später betont er vor allem die temporäre Umnutzung von Konsumräumen. »Handel lässt sich nicht mehr überall durch Handel ersetzen. Da haben wir uns auch zu spät auf den Weg gemacht«, erklärte Jung bei einer Videokonferenz des Deutschen Städtetages im Februar. Ein Vorschlag des Gremiums besteht darin, dass Kommunen leere Ladenlokale anmieten, um Schulen, Handwerker und Künstler darin einziehen zu lassen. Dafür fordert der Städtetag vom Bund für die nächsten fünf Jahre 500 Millionen Euro pro Jahr.
Die Plätze zum Verweilen in der Innenstadt sind sehr begrenzt. Der Richard-Wagner-Platz ist und bleibt ein hoch frequentierter Durchgangsbereich zwischen Haltestelle und Innenstadt. In seiner Gestaltung allerdings verweist er auf einen historischen Ort: Die Brunnenskulpturen von Harry Müller standen vormals auf dem Sachsenplatz, dem heutigen Standort des Museums der bildenden Künste.
Eröffnet 1969, war der Sachsenplatz als innerstädtischer Feierraum konzipiert und in seiner Form geschlossen, mit genügend Sitzmöglichkeiten. Heute wäre der Raum um das Bildermuseum noch ein Ort, den es zu gestalten gilt und der für die Nutzung der Stadtgesellschaft zur Verfügung stehen sollte. Vor Jahren gab es seitens des Museums Ideen, dass Skulpturen aus der Sammlung rings um das Haus aufgestellt werden sollen. Bis auf die Skulpturen »Basement« von Thomas Moecker und »Beethoven« von Markus Lüpertz passierte nichts. So verwaist der Raum immer mehr.
2019 verabschiedete die Stadt eine neue Richtlinie zu Kunst im öffentlichen Raum und Kunst am Bau. Kulturbürgermeisterin Skadi Jennicke war damals sehr erfreut und kommentierte den Beschluss mit den Worten »Kunst im öffentlichen Raum und Kunst am Bau haben in Leipzig eine jahrhundertealte Geschichte; diesen Anspruch qualitätvoll im 21. Jahrhundert fortzuführen, ist sich die Stadt Leipzig bewusst.« Die Stadt hatte vor einem Jahr gegenüber dem kreuzer dazu ein Selbstverständnis formuliert. Darin ist zu lesen, dass Kunst zur Aktivierung des öffentlichen Raumes dienen kann wie auch »als wesentlicher Aspekt der Teilhabe, des Lernens und der Bildung«. Kunstwerke »schaffen in der Stadt gesellschaftliche Kommunikationsorte, Orte der Reflexion und des Miteinander-Agierens, insbesondere durch temporäre Projekte«. Das klingt in der Theorie sehr engagiert, aber wie sieht die Praxis aus? Seit der Pandemie finden sich keine dafür zugeschnittenen Förderoptionen seitens der Stadt.
Spazierengehen, Joggen, Radfahren, Inlineskaten und Skaten dürften die meisten Bewegungsarten an der frischen Luft gewesen sein, als die Sportanlagen und Fitnessstudios geschlossen waren. Einerseits konnten neue, inzwischen verödete Orte wie der Kurt-Masur-Platz erschlossen werden. Andererseits nutzen Menschen die Natur, um fehlende Fitnessgeräte zu kompensieren. Wäre es da nicht schön, wenn anstelle der Nutzung von Ästen etc. die »Trimm-dich-Pfade« wiederbelebt werden? An einigen Spielplätzen im Auenwald sind sie noch zu finden – einfache, aus Holz
bestehende Übungsgeräte. Sie würden die insgesamt sieben Bewegungsparcours und zwei sogenannte Seniorenanlagen im gesamten Stadtraum sehr gut ergänzen.
Eine andere Option wäre die Freigabe von Schulsportanlagen für alle. Denn eins steht fest: Mehr Räume für Bewegung wird es in der Stadt mit wachsender Einwohnerzahl nicht geben. Daher stellt der Kauf der Connewitzer Spitze am Kreuz ein sehr positives Zeichen dar. Hier soll die Freifläche um die Streetballanlage erhalten bleiben und um quartiersnahe Sport- und Freiraumangebote ergänzt werden.
Etwa 320 öffentliche Spielplätze gibt es in der Stadt. Wer einen Vierjährigen nach seinen Plänen für einen idealen Spielplatz befragt, der sieht in der Leipziger Gegenwart kaum einen solchen Ort: großes Trampolin, Balancierparcours, Riesentunnelrutsche, Kletterspinne, Loopingschaukel, Wasserspielplatz, Spielzeug zum Ausleihen, Bibliothek, ein Fußballfeld mit richtigen Toren nur für Kinder, Toiletten, Kiosk, Fernrohr zum Sternegucken, Roller- und Skater-Bahn. Die Mehrzahl der Leipziger Plätze besitzt nicht einmal einen Bruchteil dessen, sondern ähnelt sich auf erschreckende Weise mit langweiligen Anordnungen. Hier bedarf es endlich mehr Gestaltungswillen.
BRITT SCHLEHAHN
Abends ausgehen ohne Anstecken
Impfen, Filter, Grundeinkommen: Welche (mäßigen) Möglichkeiten die Kultur jetzt hat
Die erste Lehre, die man ziehen muss aus der Krise: Kultur hat keine Lobby. Während besonders das produzierende Gewerbe weitgehend unbehelligt Autos zusammenschrauben und anderes herstellen konnte, stand die Kultur größtenteils still. Ein paar Filme durften noch gedreht werden – mehr nicht. Die Kultur wurde pauschal dichtgemacht, auch wenn Hygienemaßnahmen wie Hochleistungslüftung und luftige Gänge existieren. Die Wege seien das Problem, hieß es – auf dem Weg zur Arbeit darf man sich anstecken, beim Gang ins Theater aber nicht. Es gilt also, sich eine Lobby zu schaffen; allerdings wird das ein steiniger Weg. Das gilt auch für die Kunst der Bewegung, also den Sport jenseits des Profifußballs und einiger anderer Sportarten. Hier müsste man auf lokaler Ebene die Kulturbürgermeisterin in die Verantwortung nehmen.
Analog ist besser: Sicher, in einigen Bereichen mögen digitale Angebote fast wie ein Ersatz gewirkt haben, aber das Gros der Kultur ist einfach ein Live-Erlebnis. Deshalb gilt es, alles dafür zu tun, dass das wieder möglich wird; auch innen. Die Häuser und Spielstätten brauchen finanzielle Hilfen für Investitionen in Hygieneeinrichtungen. Das ist obendrein nachhaltig, weil Luftfilter zum Beispiel auch gegen Grippe- und andere Viren helfen. Die Einrichtung der Open-Air-Bühne auf der Festwiese durch die Stadt war eine hervorragende Idee, die der Wiederholung harrt. Vielleicht muss es in den nächsten Jahren auch eine Verlagerung mehr auf den Sommer hin geben? Dann sollten mehr temporäre Open-Air-Möglichkeiten geschaffen und gegebenenfalls Sonderregeln aufgestellt werden, die Lärm erlauben. Zu loben ist die Bereitschaft des Gewandhauses, der Freien Szene Räumlichkeiten für Auftritte zur Verfügung zu stellen. Langfristig muss der Virus in den Griff bekommen werden, da führt leider kein Weg dran vorbei.
Kultur ist prekär. Viele Selbstständige konnten in den letzten Jahren nur mit einer massiven Überproduktion überleben. Das war vielen Produktionen auch anzumerken. Da gab es gute Ideen, die ungut umgesetzt wurden. Zum Teil wurde zu sehr auf Erfolg hin gearbeitet, aufs Publikum geschaut, statt gute Kunst zu machen. Oder es fehlte einfach die Zeit. Da könnte eine flexiblere und langfristigere Kulturförderung gegensätzliche Akzente setzen. Natürlich muss sich Kultur in einem kapitalistischen System auch verkaufen, aber gerade Förderung sollte eine gewisse Unabhängigkeit von Marktregeln ermöglichen. Dazu zählt selbstverständlich auch, dass die Projekte selbst auch Mindestlöhne zahlen. Statt kurzatmiger Unterfangen, die inhaltlich dünn bleiben, wäre die Unterstützung langfristigerer Projekte wünschenswert.
Die Solidarität in der Kulturszene hat sich als groß erwiesen und auch das Publikum hat die Kultur gestützt. Crowdfunding und andere individuelle, maßgeschneiderte direkte Finanzierungsmodelle waren erfolgreich. Daran wird anzuknüpfen sein, ohne Gefahr zu laufen, dass die Projekte, die am marktschreierischsten beworben werden, die meiste Kohle einsacken.
Die Künstlersozialkasse muss für Pandemiezeiten Ausnahmeregeln kennen. Wenn Künstlerinnen nicht auftreten, nicht arbeiten können und daher gezwungen sind, Not-Jobs wie Regaleeinräumen zu übernehmen, darf das nicht zu ihrem Nachteil werden. Das ist aber aktuell passiert, dass Künstlerinnen aus diesem Grund von der Kasse ausgeschlossen werden. Das muss reformiert werden.
Hartz IV ist keine Grundsicherung – für niemanden. Kein Mensch darf darauf angewiesen sein. Daher muss das Arbeitslosengeld II und das mit ihm verbundene Zwangsregime aus Fordern und Drohen ausgesetzt und durch eine wirkliche Grundsicherung ersetzt werden. Diese Forderung war vor Corona berechtigt, aber wird durch die Pandemie nicht weniger gültig. Und solange es kein bedingungsloses Grundeinkommen gibt, wird die pragmatische Hoffnung für alle in der Kultur Tätigen wohl jene auf eine Festanstellung sein. Schließlich, machen wir uns nichts vor: Auch die kommenden Jahre werden für die Kultur schwierig. Sie wird wieder die Erste sein, wenn etwas geopfert werden muss, damit der Restmarkt weiter schnurrt. Denn Kultur hat keine Lobby.
TOBIAS PRÜWER
Gutes Leben ohne Verlierer
Orientierung aufs Gemeinwohl: Wie Wissenschaft und Unternehmen die Wirtschaft ändern wollen
Das gute Leben für alle« lautet das selbst erklärte Ziel der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ), einer Reformbewegung, die sich seit zehn Jahren mit alternativen Wirtschaftsweisen beschäftigt. Viele Vertreterinnen sehen jetzt durch die Pandemie die Chance, tatsächlich eine Veränderung zu bewirken: hin zu nachhaltigeren Unternehmen und einem gerechteren Miteinander.
Wie der Name bereits vermuten lässt, stellt die GWÖ das Gemeinwohl statt finanzieller Gewinne in den Mittelpunkt von wirtschaftlichem Handeln. Am Ende müssen dabei auch die Zahlen stimmen, um ökonomisch tragfähig zu sein – dessen ist man sich bewusst. Eine durchaus begrüßenswerte Idee, die der Verein in die unternehmerische Wirklichkeit umsetzen will. Hierfür erarbeiteten sie die Gemeinwohl-Bilanz, ein Werkzeug zur Analyse von Unternehmen. Konkret heißt das zum Beispiel: Wie groß ist die Spanne der Gehälter vom Chef bis zur Putzkraft? Werden Mitarbeitende an Gewinnen und Entscheidungen beteiligt? Ist ein Produkt eher schädlich und verhindert nachhaltigen Fortschritt? Und wie siehts eigentlich in der Lieferkette aus? Ein intensiver Prozess, dem sich als erstes Leipziger Unternehmen der Carsharing-Anbieter Teilauto unterzog. Auf knapp 100 Seiten legt er die Beziehungen zu Belegschaft, Verbraucherinnen und dem Gemeinwesen offen – und schnitt bei der Bilanzierung ziemlich gut ab. Die Mitarbeiterzufriedenheit ist dank flexibler Arbeitszeiten, Mitbestimmungsrechten und fairem Gehalt hoch. »Bei uns gab es nie jemanden, der auf Mindestlohnniveau eingestellt war«, erzählt Teilauto-Geschäftsführer Michael Creutzer. Auch die Kundinnen werden aktiv in Entscheidungen einbezogen, die Preise sind seit 16 Jahren stabil. Natürlich gebe es auch Baustellen. Verbrennungsmotoren sind aus ökologischer Perspektive ein Manko. Dennoch sorgt das Modell dafür, dass sich weniger Menschen ein eigenes Auto anschaffen. Mit der GWÖ-Bilanz möchte die Geschäftsführung größtmögliche Transparenz erzeugen. Für Nutzerinnen und Angestellte, aber auch Banken, die nicht verstehen, warum das Unternehmen sich nicht mehr um Rendite kümmert.
Die örtlichen Aktivistinnen der GWÖ nehmen auch die Politik in die Verantwortung und veröffentlichten im März ein Forderungspapier, das sich an die Stadt Leipzig richtet. Verwaltung und Eigenbetriebe sollen gemeinwohlbilanziert, privatwirtschaftliche Unternehmen bei der nachhaltigen Entwicklung unterstützt werden. Des Weiteren solle bei öffentlichen Ausschreibungen stärker auf Gemeinwohl-Kriterien geachtet werden, damit nicht das billigste Unternehmen den Job bekommt, sondern eines, das gute Arbeit für Mensch und Umwelt leistet. »Was auch gut funktionieren würde, wäre, Förderprogramme beim Amt für Wirtschaftsförderung nicht mehr gewinnorientiert auszurichten«, sagt Melanie Lobstädt, Unternehmerin und Koordinatorin der hiesigen Regionalgruppe. Das würde zusätzlich Anreize für Unternehmen schaffen, andere Aspekte wie Nachhaltigkeit oder soziale Verantwortung stärker in den Fokus zu rücken. Man verfolge bereits »ausschließlich Interessen des Gemeinwohls«, heißt es allerdings auf kreuzer-Anfrage beim Amt für Wirtschaftsförderung. »Der Gemeinwohl-Begriff erlebt in den letzten Jahren eine Renaissance«, bestätigt Timo Meynhardt von der Handelshochschule Leipzig. Unter der Leitung des Wissenschaftlers werden in regelmäßigen Abständen Bürgerinnen befragt, wie sie den Beitrag von diversen Unternehmen und Organisationen aufs Gemeinwohl einschätzen. In diesem Gemeinwohlatlas belegen in Leipzig Betriebe aus dem Sozial- und Gesundheitswesen die vorderen Plätze, allen voran die Feuerwehr. Doch auch andere Organisationen wie der Flughafen oder RB Leipzig landeten im oberen Mittelfeld, was vielleicht irritieren mag. Die Daten zeigen: Die Wahrnehmung von Gemeinwohlleistung ist enorm vielfältig.
Können Menschen überhaupt vollumfänglich einschätzen, welche Unternehmen einen Beitrag für die Gemeinschaft leisten? »Ich bleibe dabei radikal demokratisch: Was nicht beim Bürger ankommt, zählt nicht«, sagt Meynhardt im Gespräch mit dem kreuzer. Die Definition der GWÖ sei in seinen Augen zu eng. In der Corona-Krise hat die Diskussion um das Thema erneut einen Aufschwung erlebt. Laut Meynhardt sähen Menschen nun, welch tief greifende Veränderungen möglich sind – auch parlamentarisch. Das Bewusstsein für die Relevanz von Gemeinwohl stieg, das zeigen Studien. Der optimale Zeitpunkt für die Stadt, Prozesse in der Wirtschaftsförderung zu reflektieren. Die Inhalte der GWÖ bilden schließlich viele Themen ab, die sich Leipzig mit dem Integrierten Stadtentwicklungskonzept oder der Leipzig-Charta bereits selbst gesteckt hat. Die Gemeinwohl-Bilanz könnte ein Praxisinstrument sein, um zu sehen: Wo stehen wir wirklich?
■ Gemeinwohl-Ökonomie Mitteldeutschland, Diakonissenstr. 1, 04177, Tel. 24 87 07 58, www.gwoe-mitteldeutschland.de
LUCIA BAUMANN
Vernetzen ohne Funkloch
»Smart City«: Wie die Defizite in der Digitalisierung behoben werden sollen
Der Bildschirm des Computers sieht aus wie in einem alten Gameboy-Spiel: Eine kleine Figur mit großen Augen steht vor einem grauen Backsteinhaus, rote Pfeile deuten auf den Eingang. Es ist der virtuelle Treffpunkt des Vereins Dezentrale Leipzig, ein sogenannter Hackspace. Hier können sich Menschen Hilfe bei Technikproblemen holen oder auch an Workshops zum Thema Programmieren teilnehmen.
Anfang letzten Jahres entwickelte der Verein Hardware for Future, ein Projekt, das alte Laptops und Computer wieder betriebsfähig macht und Menschen zur Verfügung stellt, die sie dringend brauchen. Wie viele das sind, zeigte die Pandemie: Durch das Homeschooling stieg die Nachfrage rasant an, über 2.200 Anfragen erhielt der Verein insgesamt.
Mittlerweile konnte der Verein insgesamt 1.000 Laptops bereitstellen, mit denen man problemlos Dateien öffnen,
Dokumente ausfüllen und Videos gucken kann. Es ist ein kleiner Fortschritt in Richtung Digitalisierung, »aber da ist noch viel Luft nach oben«, weiß auch Vereinsmitglied Tim Hofmann. Immer noch gebe es zu viele Probleme bei der Qualität der technischen Ausrüstung in Schulen, angefangen bei den Taschenrechnern bis hin zur Software.
»Wir sind auf dem Weg«, sagt Beate Ginzel, fragt man sie nach dem Stand der Digitalisierung in Leipzig. Sie ist Leiterin des Referats Digitale Stadt, das vor zwei Jahren gegründet wurde. Hardware for Future ist nur ein Beispiel für die Projekte, die in Zusammenarbeit mit dem Referat entstanden sind. Gemeinsam mit ihrem Team arbeitet Ginzel daran, die Digitalisierung in der Stadtgesellschaft voranzutreiben. Indem sie Projekte zum Thema fördert und Akteure vernetzt, wie sie sagt.
Einen großen Schritt habe die Stadt in Richtung Entwicklung und künftiger Nutzung einer Datenplattform gemacht. Die Datenplattform soll die Verwaltung in die Lage versetzen, derzeitig und künftig erhobene Daten im Stadtraum besser nutzen zu können, auch in Richtung Stadtentwicklungsplanung. Beispielsweise, um Abläufe im öffentlichen Nahverkehr besser zu planen und effizienter auch in Hinblick auf den Energieverbrauch zu machen. Das Projekt ist Teil des Konzepts einer sogenannten Smart City, einer cleveren Stadt, die Digitalisierung nutzt, um nachhaltiger und besser vernetzt zu werden. Europaweit werden hierzu Projekte entwickelt, die auch auf andere Städte übertragbar sein sollen. Das Referat Digitale Stadt arbeitet intern gerade an einer gesamtstädtischen Digitalstrategie, in die sich die Leipziger ab Herbst 2021 einbringen können sollen. Ein Aspekt, der bei der Digitalisierung der Stadt Leipzig im Fokus liegen soll, ist der Klimaschutz, was ein aktuelles Modellprojekt im Dunckerviertel und auf der Baumwollspinnerei im Leipziger Westen zeigt. Das Ziel: möglichst klimaneutrale Quartiere herstellen. Durch eine App sollen die Mieter in der Lage sein, ihren persönlichen Energieverbrauch zu kontrollieren und zu steuern, wie viel Energie sie wirklich brauchen. Die Erhebung der Daten soll es möglich machen, Energiebedarf und Energieerzeugung besser in Einklang zu bringen und so aufeinander abzustimmen.
Doch ob das gelingt, ist auch eine Frage der digitalen Kompetenz, gibt Projektleiterin Nadja Riedel zu. »Die Menschen müssen befähigt werden, die App zu verstehen und zu benutzen«, erklärt sie. Möglich sei dies nur, indem man die Ergebnisse in den Kontext der Klima- und Energiewende setzt. »Wir versuchen das zu erreichen, indem wir Vergleiche anstellen: Wie viel CO2 verbrauche ich? Ist das viel oder wenig?« Die Hoffnung: eine grundlegende Reduzierung des eigenen Verbrauchs. Und das, obwohl Digitalisierung ihren Teil zum Energieverbrauch beiträgt: »Das ist ein Dilemma der Digitalisierung: Einerseits können durch eine bessere Steuerung von Daten Ressourcen geschont werden. Andererseits braucht es jedoch auch Maßnahmen, dem steigenden Energieverbrauch durch die Digitalisierung zu begegnen«, macht Ginzel deutlich.
Digitalisierung soll viele Dinge effizienter und am Ende vielleicht auch klimafreundlicher machen. Doch können auch alle Menschen gleichermaßen von ihr profitieren? »Wir wollen Daseinsvorsorge und öffentliche Dienstleistungen in einer sich digitalisierenden Welt nah bei den Menschen anbieten«, erläutert Leipzigs Verwaltungsbürgermeister Ulrich Hörning. Nicht alles muss digital ablaufen: »Aus dem Bürger-Service-Amt wollen wir diese Dienste persönlich, digital und telefonisch aus einer Hand anbieten«, versichert Hörning. Aber auch hier könnte der Verein Dezentrale einen Ausweg bieten: Während Hardware for Future die Schule stark in den Fokus gerückt hat, will der Verein in Zukunft auch mehr mit Senioren zusammenarbeiten. Vereinsmitglied Hofmann glaubt: »Da gibt es viele, die noch kein Endgerät haben oder sich noch nicht damit beschäftigen.«
ANNA HOFFMEISTER
Fortkommen ohne Barrieren
Mit dem Wissen der Zivilgesellschaft: Wie der Verkehr der Zukunft rollt
Deutschland ist Autoland. Zum 1. Januar 2021 fuhren 48,2 Millionen PKW durch die Bundesrepublik, Tendenz steigend. Die Autoindustrie zählt zu den Gewinnern der Corona-Krise, aber die Entwicklung mit E-Autos kommt schleppend voran. Selbst wenn man sie beschleunigen würde, verschwänden Probleme wie ihre energieintensivere Produktion, unmenschliche Arbeitsbedingungen bei der Erstellung ihrer Batterien und die Erneuerbarkeit des Stroms, der fürs Fahren gebraucht wird, nicht. Und tödliche Unfälle bauen können auch E-Autos.
Leipzig wächst. Und mehr Einwohner bedeuten mehr Bedarf für Mobilität. Die Stadt verzeichnete in den letzten zwei Jahren je einen Wanderungsgewinn von circa 5.000 Menschen, 2019 rollten über 263.000 Kraftwagen durch die Stadt – Tendenz ebenso steigend. In einer Zeit, in der die Klimakrise immer verschärfter wird, lohnt sich die Frage, wie Klimaschutz und mehr Mobilität koexistieren können.
In Leipzig soll nun als Modellversuch nur noch Tempo 30 in einem Stadtgebiet erlaubt sein – in welchem, muss die Leipziger Stadtverwaltung bis Ende des Jahres vorschlagen. Das beschloss der Leipziger Stadtrat mit Zweidrittel-Mehrheit im März (siehe kreuzer 05/21). Ungefähr zur gleichen Zeit wurde das 365-Euro-Ticket für ÖPNV unter bestimmten Voraussetzungen eingeführt.
Mehr ÖPNV, weniger Autofahren – ist hier ein Kulturwandel im Gange? Geht Leipzig vom Konzept autoarme Innenstadt in Richtung autofreie Stadt?
Das Versuchsmodell Tempo 30 soll Verkehrssicherheit, Umweltschutz und Lebensqualität in der Stadt verbessern. Der Aufprall bei Unfällen wird durch niedrige Geschwindigkeit vermindert. Weil weniger gebremst und beschleunigt wird, kommt es zu weniger Staus und Energie-verbrauch, das bedeutet weniger Feinstaub und Stickoxid. Zudem wird der Verkehr leiser, denn Verkehrslärm entsteht vor allem durch das Rollen der Reifen mit über 30 km/h.
Ähnlich wie bei Tempo-30-Modellen fallen die Argumente für autofreie Stadtteile aus: Gut für die Umwelt, gut für die Lebensqualität. Mustersiedlungen gibt es in Freiburg, Bremen, Mannheim oder in Wien – mit unterschiedlichen Regeln. Mal bekommen die Interessenten keinen Mietvertrag, solange sie ein Auto besitzen, mal stellt die Stadt fahrerlose E-Busse zur Verfügung. Die Bewohner machen einen glücklichen Eindruck. Doch ein genauer Blick macht die Ursache ihres Glücks klar: Geld. In Vauban in Freiburg befinde sich der beste Bioladen der Stadt, berichtete ein Person im Deutschlandfunk, auch die Mietpreise sind dort überdurchschnittlich hoch. Laut Badischer Zeitung stiegen sie seit 2000 um 90 Prozent. Wenn die Mietpreise steigen, sobald mehr Lebensqualität erreicht wird, werden arme Menschen in andere Stadtteile vertrieben. Für sie ändert sich also nichts, das Problem wird nicht gelöst, sondern verschoben.
Die Nachteile des Stadtverkehrs bekommen bisher vor allem arme Menschen ab, weil sie in Stadtteilen mit mehr Autoverkehr leben, obwohl sie weniger Auto fahren. Sie sind stärker von Luftverschmutzung und Lärmemissionen und deren gesundheitlichen Folgen betroffen, werden dadurch häufiger krank, leben kürzer und können schlechter schlafen.
Auch wenn es nur darum geht, Menschen für ÖPNV und Radfahren zu begeistern, bestehen weitere Fragen. Zum Beispiel, wie plausibel es ist, mehr Radwege zu bauen, ohne motorisiertem Verkehr den Straßenraum wegzunehmen. Oder: Wie kann der ÖPNV ausgebaut, taktverdichtet und besser vernetzt werden und bezahlbar bleiben?
Leipzig führt zwar das 365-Euro-Ticket ein, allerdings nicht für alle. »Erst wenn alle das günstige Abo für Bus und Bahn kaufen können, wird es die gewünschte positive Wirkung für Klima, Umwelt, Mobilitätswende und lokale Wirtschaft
entfalten«, sagt Tino Supplies, der verkehrspolitische Sprecher des Leipziger Umweltschutzvereins Ökolöwe, der mit einer Petition das 365-Euro-Ticket für alle forderte. Während sich viele das Ticket problemlos leisten könnten, dürfte der Preis von etwa 30 Euro im Monat für arme Menschen eine hohe Summe darstellen. Könnte es für
Geringverdiener durch Steuergelder finanziert werden, gäbe es ein Problem weniger.
Eine der aktuellen Problemlagen in Bezug auf ÖPNV in Leipzig stellen die Barrieren dar. Es gibt zwar Menschen, die aufgrund von Behinderungen nicht auf ein eigenes Auto verzichten können. Andererseits gibt es auch jene, die ihn zwar nutzen können, aber dabei mit Hindernissen konfrontiert werden. In Leipzig sind nicht alle Haltestellen barrierefrei. Zudem würden defekte Aufzüge teilweise erst Wochen später repariert, beklagt Gunther Jähnig, Geschäftsführer des Behindertenverbands Leipzig. Fahrgäste würden während der Fahrt nicht auf die Barrieren hingewiesen, was dazu führe, dass Menschen nicht von der Haltestelle wegkommen. In der Umweltschutzdebatte sei die Mobilitätsfrage behinderter Menschen zurückgedrängt, beklagt Jähnig. »Auch die Ladestationen für E-Autos sind selten barrierefrei.«
Jegliche Grenzüberschreitungen im ÖPNV stellen eine Problemlage dar. Seit 2016 häufen sich Berichte in den sozialen Netzwerken über rassistische Übergriffe, seit Anfang der Pandemie warnen Opferberatungsstellen vor Angriffen insbesondere antiasiatischer Art. Laut dem Verein Frauen gegen Gewalt kommt es in öffentlichen Verkehrsmitteln auch oft zu sexuellen Übergriffen.
Verkehrspolitik hat also viele Überschneidungen mit anderen Bereichen. Um den Verkehr für alle zugänglich und sicher gestalten zu können, muss die Stadt auch mit zivilgesellschaftlichen Akteuren, die sich gegen Diskriminierung einsetzen, zusammenarbeiten und ihre Erfahrungen in die Verkehrspolitik einfließen lassen. Die zivilgesellschaftliche Expertise scheint unverzichtbar für die Entwicklung der Stadt der Zukunft.
SIBEL SCHICK