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Kultur

Poetik in Kopenhagen

In »Kindheit«, »Jugend« und »Abhängigkeit« betrachtet Ditlevens gnadenlos ihr Leben

  Poetik in Kopenhagen | In »Kindheit«, »Jugend« und »Abhängigkeit« betrachtet Ditlevens gnadenlos ihr Leben

Unzählige Bücher überfluten den Markt. Linn Penelope Micklitz und Josef Braun helfen einmal wöchentlich auf »kreuzer online« bei der Auswahl. Diesmal liest Literaturredakteurin Linn Penelope Micklitz die Neuübersetzung der autofiktionalen Kopenhagen-Trilogie Tove Ditlevsens.

»Die Wirklichkeit hat mich noch nie interessiert, und ich dichte nie über sie.« So selbstbewusst verkündet Tove Ditlevsen als Mädchen ihre schriftstellerischen Ambitionen. Sie liebt Worte und Gedichte, schreibt heimlich selbst welche. Ihre Familie weiß nichts davon. Im Schweden der 1920er-Jahre hat die Kunst in der Arbeiterklasse nichts verloren. Die kleine Tove wird erwachsen und schließlich doch Schriftstellerin. Und was passiert? Sie schreibt Gedichte und autobiografische Romane. Drei dieser Romane sind in diesem Jahr als mehrbändiges autofiktionales Werk unter dem Titel »Kopenhagen-Trilogie« neu übersetzt worden.

Wir folgen dem Mädchen Tove also in seine kleine Wohnung, in der es das Schlafzimmer mit Eltern und Bruder teilt. Nah sind sie sich nur räumlich, es gibt keine Privatsphäre und keine echte Nähe.Welchen Stellenwert Toves Schreibversuche haben, zeigt sich, als der Bruder ihr Poesiealbum findet. Er gesteht später, »die Gedichte würden ihm eigentlich gefallen, wenn sie bloß von jemand anderem geschrieben worden wären (…). Sobald man wisse, dass alles erstunken und erlogen sei, könne man nicht anders, als sich darüber totzulachen.«

[caption id="attachment_127968" align="alignright" width="320"] Die Trilogie von Tove Ditlevsen. Cover: Aufbau Verlag[/caption]

Schilderungen wie diese, die emotional distanziert scheinen, transportieren durch ihre Unaufgeregtheit die große Entfremdung des Mädchens umso stärker. Ein Kind wird erwachsen, verliert den Bezug zu seinem Umfeld, und schließlich auch immer mehr zu sich selbst. Es ist dieser sezierende Blick, der auch die Prosa von anderen autofiktional arbeitenden Schriftstellerinnen wie Annie Ernaux so bestechend macht — beim Betrachten des eigenen Lebens gnadenlos scharf stellen. Ditlevsens Sätze aber sind trotz dessen auch von großer Schönheit: eine bewegende Reise voller Hoffnung, die »als flüchtiger Schimmer im glatten, schwarzen Haar« der Mutter sitzt und bitter endet. »Ich war von meiner jahrelangen Abhängigkeit geheilt, aber noch heute erwacht die alte Sehnsucht ganz leise (…) Sie stirbt nie ganz, solange ich lebe.« Im März 1976 nahm sich Tove Ditlevsen mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben.


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