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Kultur

Kontinuitäten

Die Schau »Offener Prozess« zeigt Rassismus im Osten und Westen

  Kontinuitäten | Die Schau »Offener Prozess« zeigt Rassismus im Osten und Westen

Rassismus in Ost- und Westdeutschland von 1970 bis in die Gegenwart: Das zeigt die Ausstellung »Offener Prozess« in Jena. In Bewegtbild und Audioarbeiten kommen Betroffene zu Wort. Noch bis zum 15. August kann die Schau in Jena besichtigt werden.

In der Innenstadt von Jena ist es unmöglich, sich an der Ausstellung »Offener Prozess« vorbeizuschummeln. Riesige Aufsteller bewerben die Schau in der Kunstsammlung mit den Fotos der vom Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) getöteten Menschen. Und umgekehrt steckt ganz viel Jena in der Kunstsammlung. Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe sind in der Saalestadt geboren, aufgewachsen und bereiteten hier ihre ersten Aktionen vor.

Dass nach dem Urteil gegen Zschäpe der NSU-Komplex noch lange nicht abgeschlossen ist, zeigen Hanau, Halle und immer wieder neue Meldungen über das engmaschige rechte Netzwerk.

Der Verein ASA-FF aus Chemnitz erarbeitet Formate zur NSU-Aufarbeitung – eine Variante davon zeigt die Ausstellung, die von Ayşe Gülec und Fritz Laszlo Weber kuratiert wurde. »Zuhören als politische Praxis« gilt hier. Die künstlerischen Arbeiten konzentrieren sich vor allem auf bewegte Bilder und Audioarbeiten.

»Es geht um Rassismus in Ost- und Westdeutschland«, erklärt Ayşe Gülec. Unter diesem Blickwinkel wird der Zeitraum von den 1970er Jahren bis zur Gegenwart betrachtet. »Wichtig für uns war, dass wir nicht mit der ersten Tat des NSU beginnen und mit der letzten Tat und dem Urteil aufhören«, so die Kuratorin, »es geht um die Kontinuität.« Ein weiterer sehr wichtiger Aspekt, der den Arbeiten zugrunde liegt, ist, dass »es sich nicht um stumme Opfer handelt«, und die damit verbundene Frage, wie Erinnerung lebendig gehalten werden kann.

Mit »Inventur – Metzstraße 11« von Želimir Zilnik beginnt der Parcours. Aus Jugoslawien kommend lässt er 1975 die 
Bewohnerinnen des Hauses in München sich selbst vorstellen, die meisten von ihnen sind angeworbene Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter aus Italien oder Griechenland. Ein Remake von Pinar Öğrenci aus der Gegenwart lässt Menschen aus Chemnitz zu Wort kommen.

Hito Steyerls Video »Babenhausen« von 1997 erzählt von den Ereignissen um die nach Brandanschlägen »judenfreie« Stadt in Hessen, ebenso wird an den Fall Oury Jalloh in Dessau wie auch an die 1979 in Merseburg zu Tode gehetzten kubanischen Vertragsarbeiter erinnert. Die Opfer des NSU kommen in ganz unterschiedlichen Arbeiten vor. Zum einen sind Dokumentationen der Demonstrationen in Kassel und Dortmund von 2006 nach den Morden an Halit Yozgat und Mehmet Kubaşik unter dem Motto »Kein 10. Opfer« zu sehen. Die Videokünstlerin Belit Sağ wiederum fragt, was uns die Fotografien aus den Polizeiakten eigentlich sagen bzw. sagen sollen. Das richtige Aussprechen der Namen sieht Ülkü Süngün als eine wichtige Form und nennt ihre Performance in Form eines Tutorials »Die Anerkennung«.

Aus Leipzig ist das Buch »Bruchlinien« von Anne König und Nino Bulling vertreten, das 2019 bei Spector Books erschien und neben im NSU-Prozess ignorierten Szenen Interviews unter anderem mit dem Journalisten Christian Fuchs enthält. Die Frage nach dem Erinnern und einem adäquaten Platz im städtischen Raum verhandeln Ulf Aminde und die Initiative Herkesin Meydani, die sich für ein Denkmal in der Kölner Keupstraße einsetzen als einen aktiven Ort für migrantisches Wissen – ein »Haus der Geschichten«, wie es Ayşe Gülec nennt.

Viele Geschichten und Ereignisse des NSU bündelt eine interaktive Karte. In Jena sind es beispielsweise der Jugendklub in Winzerla, in dem sich die Terroristen kennengelernt haben, die Junge Gemeinde in der Johannisgasse als entschiedener Gegner, das Ernst-Abbe-Sportfeld in Verbindung mit der Stadionbombe – einer Attrappe in einer Holzkiste mit aufgesprühten Hakenkreuzen – zum Spiel des FC Carl Zeiss Jena gegen Eintracht Frankfurt 1996.

Ein NSU-Dokumentationszentrum könnte demnächst in Chemnitz entstehen – so sieht es der sächsische Koalitionsvertrag wie auch der Plan zur europäischen Kulturhauptstadt Chemnitz 2025 vor. Die Schau stellt Vorschläge für die Gestaltung vor. Das Einzige, was dieser sehr sehenswerten Ausstellung etwas fehlt, ist die antifaschistische Kunst in Ostdeutschland in den neunziger Jahren, als direkte Reaktion auf die rechten Ereignisse – ein bisher noch kaum aufgearbeitetes Feld.

Dieser Text erschien zuerst in der August-Ausgabe des kreuzer 08/21.


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