anzeige
anzeige
Kultur

Ein Reich durch Eisen und Blut

Die Schaubühne Lindenfels zeigt Miniaturen auf dem Marktplatz

  Ein Reich durch Eisen und Blut | Die Schaubühne Lindenfels zeigt Miniaturen auf dem Marktplatz

Auf dem Marktplatz in Leipzig ersteht die Geschichte wieder auf. In zwölf lebenden Bildern nähert sich die Groupe Tongue der Geschichte Europas an.

In grünwallendem Umhang erinnerte bis 1946 die siegreiche Germania auf dem Leipziger Marktplatz an den Deutsch-Französischen Krieg. Ein Schwert über der Schulter tragend, ist sie zugleich Kriegerin als auch Soldatenmutter. Beim Fall ihrer Söhne für das sich bildende Reich leidet sie stumm. Wieso auch Tränen vergießen: »Unsre Brüder haben freudig für das Reich den Tod erlitten,« hieß es auf einer Inschrift am Sockel. Das Siegesdenkmal feiert den Anfangspunkt einer deutschen Einheit, die 1871 im Versailler Spiegelsaal proklamiert wurde. Nachdem es den Nationalsozialismus überthront hatte, riss man das Zeichen der gestählten Heimat und männlichen Nation auf Antrag der SPD ab.

Vom 21. August bis 17. September ist der Platz auf dem Leipziger Markt nun wieder besetzt. Auf der Spitze des Karussells, das als Mahnmal den innereuropäischen Kriegen und kolonialen Eroberungen erinnern will, hängt der verrostete Flügelhelm der Germania. Nur ein im Sturz begriffenes Pferd aus Zucker dreht sich im Zentrum. Darunter regen sich Gestalten, in denen der preußische Militarismus und seine gewaltsamen Folgen wieder auferstehen. In zwölf lebenden Bildern, wie man sie nennt, nähert sich die Groupe Tongue unter dem Titel »Et si l’europe?« der Vergangenheit und begeht dabei fiktionale Schleichpfade.

Die lebenden Bilder, welche die französische Theatergruppe vom 25. bis 28. August im öffentlichen Raum aufführt, bilden den Auftakt der Veranstaltungsreihe »Zucker.Rausch.Germania«. Unter der Schirmherrschaft des Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble stellte die Schaubühne Lindenfels ein Programm zusammen, das in Audiowalks, performativen Zwiegesprächen mit dem Archiv und im symbolischen Spiel mit der Fahne nach Möglichkeiten anhaltender Erinnerungsarbeit fragt.

Im multilingualen Bilderreigen auf dem Karussell stellt sich bereits die Übersetzung als tückisch heraus: Ein unbekannter Soldat, der gestützt auf eine Krücke und mit verbundenen Augen vor das Publikum genötigt wird, beschreibt das Schlachtfeld. Sein entsetzter Bericht klingt in der Übersetzung vom Französischen ins Deutsche durch einen Jahrmarktsausrufer fast genussvoll. Zwischen den singenden Kanonen und dahinsinkenden Kameraden wird der Tod als libidinöse Befriedigung freudig ersehnt. Dargebracht durch die typenhaften Figuren tritt das Groteske der Verschiebung zutage, die unter anderem in der militaristischen Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts Ausdruck fand.

Die Gesichter der vier Schauspielerinnen und Schauspieler sind zwar überzogen mit einer Patina, die aufgeführten Vergangenheitsfragmente versuchen sich jedoch als gegenwärtige zu aktualisieren. Das Unabgegoltene und Unabgeltbare in der deutschen und europäischen Geschichte soll entgegen einer versöhnlichen Erinnerungskultur auf dem Marktplatz zum Vorschein kommen, um die Denkmäler der Sieger und ihre männliche und koloniale Historie zum Bröckeln zu bringen.


Kommentieren


0 Kommentar(e)