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Stadtleben

»Immer irgendwie dazwischen«

Katrin Hanisch über das Internationale Wolfgang-Hilbig-Jahr und die ungebrochene Faszination für seine Texte

  »Immer irgendwie dazwischen« | Katrin Hanisch über das Internationale Wolfgang-Hilbig-Jahr und die ungebrochene Faszination für seine Texte

Einer der schönsten ersten Sätze in der Literatur lautet so: »Bei meiner Ankunft, als der Mittag dämmerte, habe ich zu hinken begonnen und mich schier unstillbar durstig gefühlt.« Der, der so schreibt, ist »Hilbig, der Heizer aus Meuselwitz« – was fast mehr nach einer Romanfigur als einem international gelesenen Autor aus der Provinz klingt. Der kreuzer sprach mit der Germanistin und Lektorin Katrin Hanisch über Meuselwitz, die großen Wahrheiten in Hilbigs Texten und seine Nähe zur Romantik.

kreuzer: Warum wird Wolfgang Hilbig im Ausland ebenso gelesen wie hier, damals und heute? Katrin Hanisch: Ich glaube, dafür gibt es zwei Gründe, die miteinander zusammenhängen. Zum einen Hilbigs Poetik und zum anderen Hilbigs Biografie. Die Texte sind sehr dicht und vieldeutig, dadurch entsteht beim Lesen das Gefühl, ein dunkles, weit zurückliegendes Geheimnis entschlüsseln zu können, vielleicht das Geheimnis des Menschseins an sich. Und vor allem entsteht durch diese dichte Sprache auch eine Themenvielfalt. Das, was man im Allgemeinen »engagierte Literaur« nennt – direkt politisch schreiben –, macht Hilbig ja gerade nicht, und dennoch geht es in seinen Texten oft um Identitätsfragen, Schuld oder Gewalt bis hin zum Holocaust, dessen Grausamkeit nur durch Wörter wie »Seife« und »Rampe« transportiert wird. Diese Vielfalt wiederum kommt auch aus Wolfgang Hilbigs biografischer Erfahrung. In seinen Tagebüchern hat er zum Beispiel notiert, wo am Tage seiner Geburt überall Judenerschießungen stattfanden. Hilbig hat darüber nachgedacht, wie das gesellschaftliche oder familiäre Erbe in einem einzelnen Menschen weiterwirkt. Was es bedeutet, wenn Väter wie sein eigener (den er nie kennengelernt hat, weil er in Stalingrad fiel) Kriege austragen. Natürlich spielt auch eine Rolle, dass Hilbig biografisch gesehen immer irgendwie dazwischen war. Zwischen Arbeiter und Schriftstellerei zum Beispiel. Und eben auch zwischen Ost und West. Die zwei Romane »Das Provisorium« und »Ich« sind Hilbigs meistübersetzte Bücher, weil im Ausland genau dieser scharfe und zugleich poetisch vieldeutige Blick auf deutsch-deutsche Fragen geschätzt wird.

kreuzer: Am 28. August ist auch ein Spaziergang durch Meuselwitz geplant. Die Landschaft soll eine große Rolle spielen. Wie müssen wir uns diesen Ort und Hilbigs Aufwachsen darin vorstellen? Hanisch: Ich glaube, es wäre in Wolfgang Hilbigs Sinne, wenn wir uns den Ort so vorstellen, wie er in seiner Literatur vorkommt, auch wenn Fiktionales da natürlich überwiegt. Sicher muss man da etwas Düsternis wegnehmen. Die Landschaft war vom Braunkohleabbau geprägt – Krater, Abraum, Brachen – und Hilbig wuchs in einem »Randviertel« auf, das »die Asche« genannt wurde. Oder man denke an die »Abdeckerei«, die Tierkörperverwertung, die einen Gestank aus toten Tieren und Chemie verbreitete. All diese Dinge sind mit der Fantasie, aber auch dem schon angesprochenen Geschichtsbewusstsein des Autors und seiner Hinwendung zu Romantik und Groteske verschmolzen. Bei Hilbig ist es ganz oft so, dass Ortskundige die »literarischen Schauplätze« sofort wiedererkennen, dass man also durch Meuselwitz wie durch die Erzählkulissen laufen kann.

kreuzer: Wie sind Sie in die Auseinandersetzung mit Hilbig und seinem Schreiben geraten? Hanisch: Ich habe mich während meines Germanistikstudiums hier in Leipzig für die Romantik begeistert. Mir fiel einfach irgendwann auf, wie nahe Hilbig diesen Texten, den Gedanken darin, der Naturphilosophie, kommt. Später bin ich Wolfgang Hilbig dann auch persönlich begegnet, weil Volker Hanisch, mein damaliger Freund und jetziger Ehemann, Hilbig aus Meuselwitz kannte und. Dass die Stadt Meuselwitz leider damals das Geburtshaus von Hilbig abreißen wollte, und das 2005 auch getan hat, war so ein Moment, in dem wir uns sagten, vielleicht könne man als literarische Gesellschaft ein bisschen mehr bewirken, um solche Willkür zu verhindern. In Meuselwitz steht jetzt, von uns kuratiert, ein sehr schöner Gedenkstein mit künstlerisch gestalteten Bronzetafeln am Areal des Geburtshauses. Meine Auseinandersetzung mit Hilbigs Texten reißt natürlich durch die Arbeit in dieser Gesellschaft nicht ab. Und das ist schön.

Der Text erschien zuerst in der August-Ausgabe des kreuzer 08/21.


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