anzeige
anzeige
kreuzer plus

Deutsch-deutsche Realitäten

Kreuzer-Autorinnen schreiben über das Ostdeutschsein

  Deutsch-deutsche Realitäten | Kreuzer-Autorinnen schreiben über das Ostdeutschsein

»Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.« Mit diesen Worten kommentierte Altkanzler Willy Brandt den Mauerfall. 32 Jahre später, 31 Jahre nach der Wiedervereinigung sind die ostdeutsch-deutschen Beziehungen noch immer nicht normalisiert, scheint der sogenannte Transformationsprozess nicht abgeschlossen zu sein. Allein, dass das Label ostdeutsch entweder als irgendwie belastet bewertet oder stolzer Identitätsmarker ist, deutet darauf hin. Auch, dass teils noch immer von den »neuen Bundesländern« die Rede ist. Eigentlich müsste der Zusatz »Ost« in einem vereinigten Deutschland überflüssig geworden sein. Ist er aber nicht. Im Grunde gibt es »die« Ostdeutschen gar nicht – oder doch? kreuzer-Autorinnen versuchen sich in persönlichen Antworten. Die Titelgeschichte aus der Oktober-Ausgabe des kreuzer.


»Nur ein Nachwendekind«

Ich bin acht Jahre nach der Wiedervereinigung in Brandenburg an der Havel geboren und auf dem Land aufgewachsen. Meine Familie hat nie viel über die DDR geredet. Diese gewaltige Geschichte des untergegangenen Landes tauchte in den Erzählungen von früher allenfalls als Randnotiz, als Fußnote auf – »es war ja noch DDR« –, wenn meine Oma beispielsweise erklärt, dass sie bestimmte Produkte im Laden nicht bekommen hat.

Lange Zeit bin ich einfach davon ausgegangen, dass meine Familie abseits der Städte keine großen Auswirkungen von DDR-Unrecht und später der Wende gespürt haben. Deswegen bin ich auch nie auf die Idee gekommen, meine Verwandten zu fragen, ob sie bei der Stasi waren oder denken, sie wurden bespitzelt. Meine Eltern sind 1989 auch nicht montags auf die Straße gegangen. Es ist also nicht so, als hätte man mir ein politisches Erbe aufgetragen, was vielleicht schon der erste Grund ist, warum ich mich selten als ostdeutsch identifiziere. Obwohl ich »nur« ein Nachwendekind bin.

Oft wird Identität ja erst sichtbar oder geschaffen, wenn man Unterschiede feststellt, sich abgrenzt oder ausgegrenzt wird. Zwar habe ich noch nie mehr als eine Woche in Westdeutschland verbracht, aber als ich fürs Studium nach Leipzig zog, freundete ich mich zum ersten Mal mit Westdeutschen an. Ich erkannte schnell ein Muster, das sich durch die meisten westdeutschen Freundeskreise zog: reich, Verwandte in hohen Positionen, studiert. Und ich fand heraus, dass das strukturelle Gründe hat.

Es machte sich noch etwas anderes bemerkbar. Das erste Mal spürte ich es, als ich mit einer Freundin aus Baden-Württemberg den Gerichtsweg entlanglief. Sie zeigte auf die Plattenbauten an der Seite und sagte: »Das sieht richtig nach DDR aus, so hässlich.« Ich fühlte mich gekränkt, obwohl das doch gar nichts mit mir zu tun hatte. Aber ich war es eben gewohnt, solche Häuser zu sehen. Die gab es auch in unserer kleinen Gemeinde und viele Freundinnen von mir sind in genau solchen Platten aufgewachsen. Das zieht sich bis heute so fort: Wenn jemand schlecht über etwas redet, das mit dem Osten zu tun hat, habe ich oft das Gefühl, ihn verteidigen zu müssen.

Ich wurde halt auf eine bestimmte Art und Weise sozialisiert, bin in diesem Raum aufgewachsen, in dem sich nicht schlagartig alles ändert, nur weil irgendwo eine Mauer fällt. Je länger ich mich mit der DDR und Ostdeutschland auseinandersetzte, desto mehr fiel mir das auch auf. Das alles hatte also doch mehr mit mir zu tun, als ich dachte, und zwar in sämtlichen Lebensbereichen. Meine Familie ist nicht gläubig, ich habe Jugendweihe gefeiert statt Konfirmation, zu Weihnachten gehen wir nie in die Kirche. Meine Oma hat meinen Vater weitgehend allein großgezogen, weil sie und mein Opa sich in den Achtzigern haben scheiden lassen.

Und trotzdem. Wenn ich mich heute als Ostdeutsche fühle, löst das in mir einen Zwiespalt aus. Es gibt meiner Meinung nach so viele andere Kämpfe für Gerechtigkeit, die wir zuerst kämpfen müssen, bevor ich mich darüber beschweren kann, dass ich nicht so viel erben werde wie viele meiner westdeutschen Freundinnen. Wenn in einer Talkshow eine junge Frau spricht, bin ich im Vergleich zu vielen anderen schon repräsentiert genug. Die andere Seite der Medaille ist, dass die meisten Ostdeutschen wirklich viel weniger Macht, Einkommen und Vermögen als Westdeutsche haben und es mehr offenen Rechtsextremismus gibt. Durch meine Erfahrungen und mein Wissen kann ich die Probleme einer Sächsin besser verstehen als irgendjemand aus Bayern. Deswegen möchte ich helfen, diese Probleme zu zeigen und zu lösen. Und den Zwiespalt muss ich wohl einfach aushalten.

SOPHIE GOLDAU


»Bleibt vieles anders«

Vom Dorf meiner Großeltern an der thüringisch-hessischen Grenze im ehemaligen Sperrgebiet war es in den Westen nie weit. Jedes Mal, wenn wir zu Besuch kamen, fuhren wir mit dem Auto über eine Hügelkuppe, an der ein Gedenkstein an die Teilung Deutschlands und Europas erinnerte.

Ich wurde nach der Wende geboren. Mein Leben lang kenne ich offene Grenzen, kenne ich es, dass man in den Westen genauso leicht fahren kann wie tiefer in den Osten. Trotzdem habe ich mich immer wie jemand aus dem Osten gefühlt. Auch weil die wenigen Kilometer nach Hessen in den Köpfen meiner Familie nach 1989 weiter einen Unterschied machten. Nicht so sehr bei meinen Eltern, die ein Jahr nach meiner Geburt nach Süddeutschland zogen, erst nach Bayern, dann nach Baden-Württemberg. Doch dafür umso stärker in den Köpfen meiner anderen Verwandten, die in ihrem Dorf geblieben waren. Dort fiel ein Auto wie unseres mit Heilbronner Kennzeichen sofort auf. Besuch aus dem Westen blieb Besuch aus dem Westen, auch als die Mauer längst weg war. Den befremdeten Blick auf die Nachbarregionen erlebte ich jedoch nicht nur auf Ostseite.

Ich erinnere mich noch gut daran, wie wir im Geschichtsunterricht die DDR behandelten und die Klasse immer wieder in Gelächter ausbrach über diese komischen Politikervögel da im Osten. Oder wie mich ehemalige Schulfreunde nach meinem Umzug in Leipzig besuchten und sich über die kaputten Straßen ausließen, auf denen es sich wirklich nicht gut fahren lasse.

Beim Rückblick auf meine Kindheit fällt mir vor allem auf, wie häufig auf allen Seiten die Differenzen betont wurden. Meine Familie hatte große Probleme mit dem DDR-Staatsapparat, doch was am Osten anders war, das war immer Teil ihrer Erzählungen. Es waren ihre Erzählungen über Solidarität, darüber, dass man im Osten wusste, wie man kaputte Dinge reparierte, dass man selbstständig war, die mich prägten. Sie führten letztlich dazu, dass ich nach dem Abitur unbedingt dorthin zurückwollte, wo ich nie wirklich gelebt hatte. In ihrem Essay »Sister Outsider« schreibt die afroamerikanische Schriftstellerin und Feministin Audre Lorde: »Trotzdem darf Gemeinschaft nicht das Abwerfen unserer Unterschiede bedeuten, und sie sollte auch nicht die jämmerliche Behauptung aufstellen, diese Unterschiede existierten nicht.« Vielleicht ist es die nächste oder die übernächste Generation, für die die Vorstellung von Ost und West vor allem eine historische ist. Während meines Aufwachsens war sie jedenfalls immer da. Sie war eine Realität, weil die Leute, die ich kennenlernte, sie auf beiden Seiten als Realität lebten. Weil sie in den Köpfen lebendig blieb. Weil man immer noch in den Westen oder in den Osten zieht und nicht nach Stuttgart, Hannover oder Rostock. Einen Teil dazu beigetragen haben manchmal vielleicht auch diejenigen, die als Erste auf die jeweils andere Seite gezogen sind und dabei ihre Herkunft umso stärker gespürt haben. Sehnsucht und Verklärung gedeihen gut mit Abstand, sei er nun räumlich oder zeitlich. Das gilt für den Osten des Landes genauso wie für den Westen.

JOSEF BRAUN


»Jenseits von Ostquoten«

Wer wissen möchte, was es mit Ostdeutsch in der bildenden Kunst auf sich hat, der oder die hat einige Optionen, um Nachforschungen anzugehen.

Erstens: Das Personal von Kunsteinrichtungen in Ostdeutschland checken und die Ausstellungen, die gezeigt werden. Dabei müssen keine Einzelausstellungen hervorstechen, das ist mittlerweile gar nicht mehr so exotisch – siehe Willi Sitte zum 100. Geburtstag ab Oktober in der Moritzburg in Halle – bei einem ostdeutschen Direktor und Kurator. Nein, es geht darum, wie viele Menschen in allgemeinen Ausstellungen auftauchen. Das ist die hohe Kunst – abseits exotischer Trüffelfördermittelschauen und Ostquoten – und bitter sind auch Blicke in die Vorlesungsverzeichnisse an Universitäten. Spezielle Ostseminare gibt es mittlerweile schon, bei inhaltlichen Themenschwerpunkten kreist der Blick dann gern nur auf die Westkunst (siehe Ausstellungen, Museen).

Zweitens: Ostdeutsch und Männlichkeit bildet eine Kombination, die nicht nur im Kunstfeld eine Bedeutung besitzt. Hier eignet sich immer noch bestens Wolfgang Ullrich und sein Bericht »Feind Bild Werden« in Auseinandersetzung mit Neo Rauch.

Drittens mit Kunstschaffenden reden, ob und wie es für sie interessant ist. Die Auswahl hier erfolgte subjektiv und aus dem Grund, dass beide Kunstschaffende in der Ausstellung »Amnesie« vertreten waren, die die Autorin im Herbst 2009 organisierte.

Silke Koch ging im Sommer 1989 von Leipzig in den Westen und machte in Hannover das Abitur. Auffallend im Westen war für sie, dass hinter bekannten Begriffen wie etwa in Geschichte plötzlich ganz andere Namen und Köpfe dazu auftauchten. Letztlich ergaben sich so viele neue Fragestellungen, dass ihr klar wurde, dass die Notwendigkeit bestand, diesen künstlerisch nachzugehen. Ist sie eine ostdeutsche Künstlerin? – Diese Frage möchte sie weder mit ja noch mit nein beantworten. Sie interessiert, wie sich Gesellschaft im öffentlichen Raum darstellt. Fotografien aus verschiedenen Zeiten sind ab Mitte Oktober im Neu Deli zu sehen.

Jan Brokofs Übermalungen zu »Ostern/Western« sind mit einigen Exemplaren in der Dauerausstellung des Zeitgeschichtlichen Forums präsent. Seit über zehn Jahren sammelt er die Schlagzeilen der Berliner Yellow Press bezogen auf Osten und Westen. Waren es anfangs noch Klischees wie der »Gierwessi«, so nehmen derartige Zuschreibungen mittlerweile ab. »Ich sehe mich nicht als ostdeutschen Künstler«, so Brokof (geboren 1977 in Schwedt, Studium in Dresden und seit Jahren in Berlin arbeitend). Vielmehr geht es um Erfahrungen, die er mit der Wende verbindet und sich dabei auch auf der Verliererseite sieht, denn »es gibt nun mal nur Sieger und Verlierer«. Dazu gehört, dass er aus einem »Wir« heraus denkt und nicht aus einem »Ich«. Er beobachtet an sich, dass er aus einem Mangel agiert: »Du weißt noch viel zu wenig!« Einen Unterschied zu gleichaltrigen westdeutschen Kunstkollegen sieht Brokof in deren Argumentation, dass sie durch materielle Sicherheit (per Erbe etc.) künstlerisch frei agieren können. Im Osten sieht er mehr Prekariatserfahrungen, aber auch einen entscheidenden Vorteil: das Verschwundene und die damit verbundene Imagination.

BRITT SCHLEHAHN


»Teilaspekt des Lebens«

Die Sache mit der ostdeutschen Identität war schon immer schwierig. Schwierig für mich, das Mädchen aus Ost-Berlin, das ab 1993 in West-Berlin aufs Gymnasium ging. Ein deutsch-deutsches Zwitter-Wesen. Als Kind wurde ich in der DDR sozialisiert – ohne Pioniertuch (Katholikenkind), aber mit Sandmann im Fernsehen und Ostsee im Urlaub. Als Jugendliche dann die BRD-Sozialisation. In meinem Jahrgang waren wir sieben Ostdeutsche unter circa 90 Westdeutschen. Man kann uns sofort erkennen, wenn man die Klassenfotos von damals sieht. Wir hatten einfach einen anderen »Style«. Keine Levi’s, kein Esprit, keine Adidas-Sneakers.

Was hat diese Erfahrung des Andersseins im Kindesalter mit mir gemacht? Das habe ich in letzter Zeit, in der es immer mehr Texte und Geschichten gibt zum Thema Identität und DDR-Erfahrung, oft überlegt und muss sagen: nicht viel. Dabei gab es Erlebnisse, an die ich mich heute noch erinnern kann. Als meine Mitschülerinnen aus der 5. Klasse zum Kindergeburtstag zu mir nach Hause kamen, es Nudeln mit Tomatensoße gab und Henriette sie eklig fand, weil »da ja gar keine Tomaten drin« waren. Oder als ich mit 15 eine Party gab und Thomas nicht kam, weil seine Eltern ihm verboten, Ost-Berlin zu betreten – knapp zehn Jahre nach dem Mauerfall. Selbst heute noch hat die Mutter einer guten West-Berliner Freundin den Ostteil der Stadt noch nie gesehen.

Und doch erscheinen mir diese Erfahrungen kaum wichtig für meinen Lebensweg. Viel mehr erinnere ich mich daran, was für tolle Freunde ich sowohl im West- als auch im Ostteil hatte und habe. Haben wir uns unterschieden? Unterscheiden wir uns heute noch? Klar. Irgendwas findet man immer. Die West-Freunde mussten in ihrer Kindheit mit Holzeisenbahn spielen und Dinkelriegel essen, während wir mit Plastikspielzeug aus dem Westpaket spielten und Zuckerkuchen naschten. Meine Ostfreunde baden öfter nackt im See, meine Westfreunde sagen »viertel vor« statt »dreiviertel«. Doch oft hab ich gar nicht auf dem Schirm, wer von wo ist. Denn es gibt so viel Verbindendes und auch Abgrenzendes, das nichts mit Ost-West zu tun hat. Das uns zusammenschweißt. Die Unterschiede unserer prägenden Erfahrungen liegen oft woanders. Zwischen Stadt und Land. Zwischen Linken und Rechten. Zwischen Mann und Frau. Zwischen Weißen und Nicht-Weißen. Und vor allem zwischen Arm und Reich. Wenn man all das zusammennimmt, bin ich eine weiße Frau aus der Großstadt, die eher links und nicht sehr reich ist. All das macht meine Persönlichkeit mindestens genauso aus wie meine Geburt in der DDR, die so nur ein Teilaspekt ist. Einer, den ich nie verleugnen würde. Der erfreulicherweise langsam sogar cool wird. Aber es ist nichts, womit ich mit identifizieren will und kann.

Ich sehe mich nicht den »Ossis« zugehörig, ich will lieber – so pathetisch es klingen mag – zu denen gehören, die sich für Gerechtigkeit einsetzen, bei den Geschlechtern genauso wie bei den Löhnen oder auch beim Kuchenverteilen. Und die dabei ganz selbstverständlich mitdenken, dass den Ostdeutschen dabei auch ein Stück zusteht – ob das die Torte der Führungspositionen, der Rente oder der Talkshow-Aufmerksamkeit ist –, aber die dabei auch auf dem Schirm haben, dass im Osten des Landes viel im (rechtsextremen) Argen liegt.

Wer den Ostdeutschen zuhört, wird sehen, dass es »die« Ostdeutschen nicht gibt, denn sie sind sehr viele und einige von ihnen sind Arschlöcher (wie im Rest der Welt leider auch). Und so reicht zur Identifikation nicht die Frage, wo und wann jemand geboren wurde, sondern was für ein Mensch er ist.

JULIANE STREICH


»Ich werde ständig mit dem Ostdeutsch-Sein konfrontiert«

Fühlen Sie sich eigentlich ostdeutsch? Mich hat diese Frage nie aktiv beschäftigt – bis ich eines Tages auf einen Text von Valerie Schönian stieß. Die Autorin, 1990 geboren und in Magdeburg aufgewachsen, beschreibt darin die Genese ihrer »Ossi-Werdung«: Es ist die Zeit, in der Pegida anfängt durch Dresden zu marschieren und auch die Zeit, in der Menschen »den Osten als rechtspopulistische Zone abkanzelten«. Schönian ärgert sich darüber; fängt an, »den Osten« zu verteidigen und sich selbst zunehmend als Ostdeutsche zu identifizieren. Bei all den Menschen, die sich aufgrund ihrer persönlichen DDR-Sozialisation mal mehr, mal weniger stark auf ein Ostdeutsch-Sein berufen, irritierte mich vor allem das: Warum fängt ausgerechnet ein Nachwendekind an, das in der Bundesrepublik groß wird, sich aktiv auf sein Ostdeutsch-Sein zu besinnen?

Wie Schönian bin ich ein Nachwendekind. Meine Eltern lernten sich in Magdeburg kennen, wo ich 1994 geboren wurde und aufgewachsen bin. Nach ihrer Trennung ging ich hier zur Schule, später in den Theaterjugendclub und auf meine erste Party, in den Ferien hingegen fuhr ich zu meinem Vater nach Mecklenburg, half meiner Oma, ihre Hühner zu füttern, und spazierte anschließend mit ihr das Weizenfeld entlang. Für mich waren die Welt meiner Mutter und die meines Vaters gegensätzlich. Was ihre Welten vereinte, war der permanente Bezug zur DDR, in der sie geboren und aufgewachsen sind: Die Geschichten über das seltene Glück, eine Banane zu essen, das Warten auf den Trabi, die Pakete der Westverwandtschaft und die Geschichten über die Stasi – diese Erzählungen sind aus meiner Erinnerung nicht mehr wegzudenken.

Als Kind von Menschen, die in der DDR aufgewachsen und sozialisiert sind, komme ich bis heute nicht um diese Geschichten herum – und erst recht nicht umhin, sie als Teil meiner Identität zu verstehen. Denn ihre Geschichten sind natürlich auch ein Teil meiner Geschichte; sie sind fester Bestandteil am Kaffee- oder Abendbrottisch gewesen, auf Geburtstags-, Hochzeits- und Weihnachtsfeier. Die DDR als Heimat bildet den Bezugspunkt ihrer Vergleiche und Urteile über die Gegenwart. Und ja, aus ihren Erzählungen hört man manchmal auch einen bizarren ostdeutschen Stolz heraus und manchmal mehr, manchmal weniger ernst gemeinte Klischees über Westdeutsche. Als Nachwendekind brauche ich mich deswegen nicht auf ein vermeintliches Ostdeutsch-Sein zu besinnen, denn im Grunde werde ich ständig damit konfrontiert – ob ich will oder nicht.

Ich erinnere mich da zum Beispiel dunkel an eine Silvesterparty: Nach sieben Stunden Fahrt kommen wir mit einer Drei-Liter-Flasche Nordhäuser Kirsch im Gepäck in Freiburg an. Doch die Flasche finden unsere gleichaltrigen Gäste irgendwie nur peinlich, irgendwann führt das Gespräch darauf, woher wir kommen. Leipzig wird in diesem Gespräch dann nur noch als »Osten« bezeichnet, zur allgemeinen Einschätzung des »Ostens« heißt es: »Hab gehört, dort solls echt runtergekommen sein – dafür aber billig.« Ein paar Schnäpse später fallen die ersten Ossi-Witze – und das von einer Generation, die weder ein Ost- noch ein Westdeutschland kennengelernt hat. Noch vor Mitternacht bin ich im Schönian-Modus: Ich habe plötzlich das Gefühl, ich müsse »den Osten« verteidigen.

Bei Schönian sorgte dieser Verteidigungsmodus dafür, dass sie zu einer leidenschaftlichen Verfechterin Ostdeutschlands geworden ist. Der äußert sich beispielsweise dadurch, dass sie bei Sekt mittlerweile auf Rotkäppchen besteht – eben weil er aus den neuen Ländern kommt. Ich hingegen halte nicht besonders viel von Lokalpatriotismus. Zwar fühle ich mich genauso wie Schönian »mit der ostdeutschen Geschichte, den Erfahrungen, den Biografien verbunden«. Das liegt allerdings schlichtweg daran, wie ich aufgewachsen bin: wie in meiner Gegenwart über die DDR gesprochen wurde und welche Vorstellungen mir dadurch vermittelt wurden. Und daran, wen Menschen auch heute noch aus mir machen.

ANNA HOFFMEISTER


»Konsens kaputt kloppen«

»ATA, Fit, Spee, RFT / und Boxerjeans, auf die ich steh’«, Schleimkeim fasst meine DDR-Erinnerung ganz gut zusammen. Es sind Splitter der Alltagserfahrung, die mir vor allem im Gedächtnis sind über meine Kindheit und das beginnende Heranwachsen, bevor die BRD kam. Das wird anderen auch so gehen. Aber macht das alle, die die 89-Zäsur relativ bewusst miterlebten, zur exklusiven Gruppe, zu »Wir Zonenkinder« oder einer »3. Generation Ost«? Überhaupt zu »Ostdeutschen«? Im Erleben der Wende liegt sicherlich ein großer Unterschied der damals Jungen in West und Ost. Er war vielen BRD-Jugendlichen herzlich egal. Warum auch nicht? Was hatten beide Länder miteinander zu schaffen, außer der gemeinsamen Sprache und ein paar Jahrhunderten territorial zersplitterter Geschichte, über die man das Wort »Deutsches Reich« kleisterte, um einen Zusammenhang zu fingieren? Ja ja, Kultur und so. Mein’ Goethe lob ich mir …

Die Wende war für mich Kulturschock und kulturelle Bereicherung zugleich. Im Sommer 1990 verbrachte ich einige Wochen bei Verwandten im Taunus, lernte dort alle Essentials der Kinderkulturindustrie kennen. Doch zwischen Begeisterung für »Star Wars«, Nintendo und »Drei Fragezeichen« schoben sich auch Obdachlose. Alice Cooper und Roxette waren ja schön und gut, aber das konnte nicht das Ende der Geschichte sein, keimte in mir der Gedanke, ohne Fukuyama zu kennen, als ich den ersten Ostermarsch besuchte. Bald schon passte dessen Motto »Schwerter zu Pflugscharen« nicht mehr, als die Nazis begannen, sich in Hunderterstärke breitzumachen. Die gabs auch vorher, jetzt aber traten sie öffentlich auf und die damals Aufwachsenden zerfielen vereinfacht gesagt in Jäger und Gejagte. (Wobei die Rollen manchmal wechselten.) Dieses Erleben dauerhafter Unsicherheit durchs Regime des Faust- und Stiefelrechts, das die Eltern nicht verstanden, war für nicht wenige prägend. Aber haben alle daraus die gleichen Schlüsse gezogen?

An den Liedern hört man es ihnen noch an, ob die Wiege in Ost oder West stand. So scheidet sich auf Geburtstagspartys klar: Wer »Weil heute dein Geburtstag ist« anstimmt, ist aus der DDR, wie der Westmarker ging, habe ich vergessen. Aber das kann ja nicht reichen, um ein Kollektiv zu formen, eine ganze Generation daraus zu machen. Sind es die neonfarbenen Schnürsenkel, die Ende der Achtziger auch im Osten – über die Ungarische Volksrepublik und die ČSSR – unter Jugendlichen Mode wurden? Dass ich nicht Russland sage, wenn die Sowjetunion gemeint ist? Das wird die Umbruchserfahrung nicht leisten können, obwohl die damit gemachten Erlebnisse auch der zusammenbrechenden Elternbiografien nicht zu verachten sind. Auch sie macht mich nicht zum Kollektivmenschen, der einer – ohnehin unterbestimmten – Generation qua Biografie angehören muss.

Wenn ich eins gelernt habe, dann, diesem Wir, das Individuen übergestülpt wird, mit einem energischen Unwillen zu begegnen. In der DDR-Endphase fing dieses unbestimmte Grummeln in den Tiefen meiner Thälmannpionierseele an, später dann wurde ich zu einem Volk gemacht, zum Papst, zum Sommermärchen, Gutmenschen, Sachsen … Ich höre immer vom Autoritätsverlust: Ja, wenn das ein Mitnahmeeffekt der Generation Mauerfall sein soll, begrüße ich das. Falls man etwas als prägende Erfahrung mitnehmen kann, dann war es das Ersterben eines Aufbruchs, das Münden von revolutionären Momenten in eine geldwerte Vorteilsbewegung und den Gleichschritt des einen Volkes. Ein Vertreter der älteren Generation, Peter Konwitschny, beschrieb es so: »Ich hatte geglaubt, es ginge um Befreiung, Menschlichkeit und Revolution, doch stattdessen ging es um die Westmark.«

Befreiend war das ganz langsame Ende der endlosen Ära Kohl eher nicht. Während der Osten nun wirtschaftlich offensichtlich in die Knie ging, gab im neuen Fach Wirtschaft und Recht für den neuen Staatsbürger die ehemalige Werken-Lehrerin ihr im Weiterbildungs-Schnellkurs aufgeschnapptes Wissen über die soziale Marktwirtschaft zum Besten. Und während man mir zu Recht erklärte, dass die DDR autoritär und nationalistisch war, schränkte man das Asylrecht stark ein, nahm uns die Häuser, schützte die Nazis. Mit denen wurde ich dann auch gern von den neuen christlichen Landesvätern in einen Topf geworfen, weil auch ich am kollektiven Töpfchensitzen beteiligt war und als Atheist ohnehin nur braunen Geistes sein konnte. Wie unter dem Thüringer Verfassungsschutzpräsident Helmut Roewer jede auf ein Stückchen Emanzipation ausgerichtete Jugendbewegung zum Extremismusgespenst gemacht wurde, während die Keimzelle des »Nationalsozialistischen Untergrunds« frei agieren konnte. Dachte ich, das grüne Herz sei braun, so kannte ich Sachsen noch nicht. Jedenfalls das jenseits der roten, wichtigen Schutzblase einiger Leipziger Stadtteile. Die »Einzelfälle« sind bekannt, das Beschwören eines kollektiven Ost-Wirs ist unter Sachsen en vogue, wo man sich als besonderer ostdeutscher Erbe inszeniert.

Jetzt heißt es #wirimosten. Auffällig ist immer der gleichmachende Effekt hinter diesen Labels. Unterschiede werden nivelliert, wenn der Ostdeutsche dem Ostdeutschen beispringt – ohne überhaupt zu erklären, was »ostdeutsch« über eine Himmelsrichtungsangabe hinaus sein soll.

Was denn genau soll ich mit einem Lutz Bachmann gemein haben? Haben Sie etwas mit ihm gemein? Weil man mit den Worten Konsum und Kaufhalle aufgewachsen ist, tickt man anders als jene, die aus Supermärkten genährt wurden? Warum?

Mein Gefühl Ost?: Lass alle Hoffnung fahren und reiße mit einem »Trotz alledem« noch etwas. Dass und wie Ideologien funktionieren, gerade wenn sie sich selbst als ideologielose Position formulieren, hätte man auch mitnehmen können aus dem Schwund der Mauer. Das ist meine Lehre aus dem Ende-Aus-Neu. Und: dass Dissens, nicht Konsens die demokratische Quintessenz bildet. Der auf Dauer gestellte Widerstreit, das meine ich gelernt zu haben aus den Brüchen im Lebenslauf, dem Systemabsturz und der Neuinstallation. Der Appell an Wir-Gefühl und Schicksalsgemeinschaft ist mir zuwider, da bin ich nicht nur Skeptiker.

TOBIAS PRÜWER


»Solange es Rassismus gibt,werde ich nie vollständig hierher gehören«

Jedes Mal, wenn ich meine Leute in Köln besuche, fragen sie mich: »Warum wohnst du eigentlich in Ostdeutschland? Es ist doch scheiße dort, alles Faschos.« Es scheint für sie unbegreiflich zu sein, dass ich als Migrantin und als Frau, die von Rassismus betroffen ist, freiwillig in einem Ort lebe, in dem Rassismus so stark und selbstverständlich zum Ausdruck gebracht werden kann. Der Ruf Ostdeutschlands, genau das Gegenteil vom »weltoffenen« Westdeutschland zu sein, ist zwar nicht so einfach, wie es oft dargestellt wird. Ganz aus dem Nichts kommt er aber auch nicht.

Die Geschichte, die mich nach Deutschland führte, ist ein Zickzack. Meine Mutter kam in Kurdistan auf die Welt und wurde als Kind von ihren Eltern nach NRW geholt. Als junge Person wurde sie nach Antalya in die Türkei verheiratet, deshalb kam ich dort auf die Welt. Als Kurdin, Alevitin und Frau war ich selbst in dem Land, in dem ich geboren wurde, dreifach marginalisiert. 2009 zog ich nach Köln, um dem Rassismus und Sexismus der Türkei zu entkommen. Inzwischen scheint mir diese Entscheidung ironisch: nach Deutschland ziehen, um Rassismus und Sexismus zu entfliehen. Wie weltfremd.

Ich wohnte sieben Jahre in Köln. Auch dort war ich zwar eine Fremde, aber gehörte immerhin zum Alltagsbild. Das soll nicht bedeuten, dass es dort keinen Rassismus gab – er ist systematisch und überall präsent. Trotz alldem ist das Gefühl, ein Fremdkörper zu sein, dort nicht so ausgeprägt wie im Osten. Diese Realität hier ist Teil der Luft, die Menschen wie ich atmen.

Ungefähr zeitgleich zu den rassistischen Jagden in Chemnitz 2018 fingen die Person, mit der ich zusammen bin, und ich an, viel Zeit im Umland von Leipzig zu verbringen. Frisch verliebt übernachteten wir auf Campingplätzen, in Wäldern und manchmal auch in Pensionen. Da lebte ich noch nicht hier, der Osten war mir fremd. Fremdsein war ich zwar aufgrund meiner Biografie gewohnt, aber damit, eine solche Ausnahme zu sein, hatte ich nicht gerechnet. Ich war quasi ein schwarzhaariges Einhorn im sächsischen Walde. Während wir durch die Vororte reisten, begegneten wir keinen nichtweißen Menschen. Gleichzeitig flossen die Bilder aus Chemnitz auf jede meiner Timelines. Fast dreißig Jahre nach dem Mord an Amadeu Antonio, nach dem es hieß, die Täter seien frustrierte, perspektivlose junge Menschen, die nach der Wende arbeitslos wurden, verharmloste man die Nazis in Chemnitz mit ähnlicher Wortwahl. In Talkshows wurde debattiert, ob es Rassismus in Deutschland gebe, obwohl der Anlass diese Frage schon beantwortete: Rassistische Jagden sind keine düstere Vergangenheit der neunziger Jahre. Das machte mir Angst, und diese Angst begleitete mich überall.

Leipzig ist eine Großstadt, Leipzig ist hip, Leipzig ist links, Leipzig soll raus aus Sachsen. Wenn man zuerst dieses Selbstverständnis erfährt und die Stadt erst danach erlebt, sucht man diese bunte, vielfältige Stadt mit einer Lupe. Menschen, die nicht weiß sind, sind nämlich auch hier eine Ausnahme. Fifty shades of white, sozusagen. Hinzu kommen die rechten und rassistischen Vorfälle. Die Opferberatungsstelle RAA Sachsen registrierte 2020 insgesamt 91 rechte Vorfälle in Leipzig. Die Zahl betrug 38 im Landkreis Leipzig, sachsenweit 550. Kann es sein, dass Leipzigerinnen denselben Fehler machen wie Westdeutsche, nämlich Rassismus als Problem anderer ansehen, um sich davon zu distanzieren?

Die Soziologin Katharina Warda schreibt in ihrem Zeit-Artikel »Wir, die Ostdeutschen of Color«, wie es ist, als Person of Color in Ostdeutschland zu leben. Person beziehungsweise People of Color ist ein englischer Sammelbegriff für und politische Selbstbezeichnung von Menschen, die von der weißen Mehrheitsgesellschaft abweichen. Er bezieht sich nicht auf die Hautfarbe, sondern auf die Erfahrung rassistischer Ausgrenzung. Unter anderem äußern Betroffene im Artikel, dass sie sich in sehr wenigen ostdeutschen Orten sicher fühlten. Diese Erfahrung reiche von Reichsflaggen in Kleingärten bis hin zum Hitlergruß von Nachbarinnen und rassistischen Beschimpfungen an öffentlichen Plätzen. »Wir haben hier keinen Platz, aber die Rassistinnen und Rassisten haben überall Platz«, berichtet eine Frau aus Halle. »Ständig muss ich mir überlegen, wann ich wohin gehe. Anstrengend. So ist das Leben hier.« Das tut weh. Was aber mehr wehtut, als so etwas zu lesen, ist, so etwas zu erfahren.

Leipzig ist die Stadt, für die ich mich entschieden habe – das macht mich mehr zu einer Leipzigerin als einen Menschen, der zufällig hier auf die Welt kam. Welche Entscheidungen ich treffe, ist allerdings irrelevant. Solange es Rassismus gibt, meine Existenz für das größte gesellschaftliche Problem gehalten wird und Menschen mehrheitlich (und überhaupt) eine Partei wählen, die mir das Existenzrecht abspricht, werde ich nie vollständig hierher gehören. Auch das ist Teil ostdeutscher Realität.

SIBEL SCHICK


»Es fühlt sich nach Spaltung an«

Ich bin kürzlich als junge, asiatisch gelesene Person von Frankfurt am Main nach Leipzig gezogen. Wie ich den Umzug wahrnahm, davon handeln die folgenden Zeilen und davon, warum mich Kloschüsseln in Leipziger Altbauten besonders stören.

Meine Mutter fragt mich, ob ich wirklich nach Sachsen ziehen möchte. Sie hat Angst davor, dass ich in Leipzig vermehrt Erfahrungen mit Alltagsrassismus machen werde. »Ich weiß nicht, ob du dich als ›Wessi‹ in Ostdeutschland wohlfühlen wirst«, höre ich wiederum von einer Lehrerin. Ich tue das, was eine gute Tochter tun muss: Ich ziehe trotzdem nach Leipzig.

Eine Freundin färbt mir in Frankfurt die Haare, ich lasse sie von ihr bleichen, lasse die Freundin Farbe auftragen mit dem leisen Hintergedanken, dass ich im Studium nicht »die Asiatin« sein möchte, sondern »die mit den pinken Haaren«. Ich tue das, was eine gute Tochter tun muss: Ich färbe mir die Haare. In Frankfurt werde ich gefragt, wie viel ich für mein Zimmer zahle. Der Leipziger Wohnungsmarkt scheint in Frankfurter Augen utopisch, während für Ur-Leipziger die Mietpreise explodieren. Indem ich als Studentin in diese hippe Stadt ziehe, trage ich zur Gentrifizierung und Mietpreiserhöhung bei.

Im »Osten« merke ich, dass ich in der ehemaligen DDR bin. In der früheren BRD ist mir das noch nie aufgefallen. Hier merke ich das, an dem ellenlangen Porträt über Karl Liebknecht, das letztens in der Zeit im Osten erscheint und im »Westen« in dieser Länge nie gedruckt worden wäre. Ich merke es an den Geschichten, die mir meine Mitbewohnerin erzählt, von Schicksalen, die den Eltern ihrer Freundinnen im Rahmen von Enteignungsprozessen übergestülpt wurden. Denen teils die Chance darauf entrissen wurde, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, auf das sie stolz sein können. Mit meinem Umzug merke ich, dass ich viel zu wenig weiß über »den Osten«. Meine Ignoranz wird mir bewusst, vielleicht ist es eine kollektive, eine »westdeutsche«. Denn noch fühlt es sich nach Spaltung an, nach einem Riss, der sich durch Deutschland zieht und sich nur dadurch beheben lässt, dass wir uns austauschen, dass junge »Wessis« in den »Osten« ziehen und junge »Ostdeutsche« in den »Westen«.

Als ich in Leipzig ankomme, bemerke ich eine Sache, die mich hier jedoch wirklich stört. Es sind diese flachen ostdeutschen Kloschüsseln, die dafür sorgen, dass man den Stuhlgang ausgiebig betrachten kann und das Badezimmer verstärkt danach riecht. Das vermisse ich: Tiefspül-WCs. So viel zum Austausch.

MICHELLE SCHREIBER


»Die Wende hat uns gelehrt, dass die Verhältnisse hinterfragt werden dürfen«

Neulich an der roten Ampel in Leipzig. Der Fahrer im Auto ganz vorne zeigt mit seinem Blinker an, dass er rechts abbiegen möchte. Obwohl die Kreuzung frei ist, fährt er nicht los. Macht man ja nicht bei Rot. Ungeduldiges Hupen aus der Schlange hinter ihm versucht vergeblich, ihn auf den grünen Pfeil aufmerksam zu machen. Beim Blick auf das Kennzeichen – München – werden manche gedacht haben: »Das war ja klar!« Es ist der Trost der geschundenen Ostseele, dass der Wessi zu doof ist, den grünen Pfeil zu kapieren. Viel mehr zu lachen gibt es in dieser Perspektive nicht. Die Polikliniken wurden aufgelöst und kamen später als Ärztehäuser wieder. Ansonsten rannten nach dem Mauerfall lauter bunte Krawatten durch den Osten, schlossen Betriebe, verkauften Versicherungen, brachten ihre schrottreifen Kadetts für 5.000 Mark unter und machten endlich die Karriere, die sie im Westen nie gemacht hätten. Mancher Ossi mit drei Berufsabschlüssen wurde dagegen von einer ABM zur nächsten gereicht. – Wer so redet, geht als Jammerossi durch. Vielleicht nicht ganz zu Unrecht.

Dennoch lässt sich konstatieren, dass Ost und West auf seltsame Art und Weise zusammengewachsen sind, jedenfalls bislang. Im Osten gibts weniger Lohn und Vermögen und große Firmen sitzen logischerweise im Westen. Erhebungen bringen immer wieder zutage, dass nach wie vor so mancher westlich von Elbe und Harz überzeugt ist, auf dem ganzen Gebiet der DDR spreche man Sächsisch. Leute (nicht nur) aus NRW gehen selbstverständlich davon aus, dass alle ohne Zögern auf einer stummen Karte zeigen können, wo Detmold, Herne, Bochum, Hamm oder Gelsenkirchen liegen. Und schlagen selber Städte in Thüringen dem Freistaat Sachsen zu. Bundesbehörden landen überwiegend im Westen, und zwar weit häufiger als vorgesehen. Dass der Soli auch im Osten gezahlt wird und wurde, möchten überraschend viele im Westen erst glauben, wenn ihnen das per Lohnabrechnung bewiesen wird. Immerhin redet niemand mehr vom westdeutschen Sandmännchen. Das Ost-Sandmännchen hat den schickeren Bart und außerdem coole Fahrzeuge.

Jenseits von den üblichen Schubladen, dass Wessis selbstgefällig, ignorant und zu Unrecht schwerreich sind, Ossis dagegen arbeitsscheu, autoritär und in die zweite Reihe verwiesen, stellt sich natürlich die Frage, ob sich überhaupt so eindeutig sagen lässt, wer Ossi ist und wer Wessi. Als vor 32 Jahren die Mauer fiel, zeigte sich, dass die Leute lieber Demokratie statt Diktatur wollten. (Na gut, manche wollten einfach nur die D-Mark.) Es existiert auch der Glaube, dass sich damit der Kapitalismus als alternativlos erwiesen hat. Da kratzen sich manche den Kopf. Der Markt ist ein scheues Reh, das leicht zu verunsichern ist. Die Rente ist alles andere als sicher, mancherorts auch nicht die Wohnung. Man war mal stolz auf den größten Niedriglohnsektor in Europa. Die einen verzocken sich, der sprichwörtliche kleine Mann kommt dafür auf, und wo er schon mal dabei ist, kann er auch gleich noch ein paar Dividenden sponsern. Die Entwicklung von Technologien wird ausgebremst, weil irgendwer findet, dass sich nichts ändern soll, und sich damit immer wieder durchsetzt. Abgeordnete, die von Gestaltungswillen sprechen, stehen im Verdacht, damit in erster Linie ihren Kontostand zu meinen. Wenn es bei jemandem mal nicht so gut läuft, dann ist das persönliches Pech oder gleich persönliches Versagen. Aufstiegsversprechen scheinen einer vergangenen Ära anzugehören, und die Wahlbeteiligung in den unteren Einkommensschichten sinkt seit Jahren.

Dabei könnte man mal an 1989 anknüpfen und fragen, wer eigentlich der Staat ist. Einerseits mag Staat etwas sein, was einem zufällig passiert. Andererseits hat sich damals gezeigt, dass Weltverbesserung mindestens denkbar ist. Dass nichts bleiben muss, wie es war, und folglich alles hinterfragt werden darf und auch soll.

FRANZISKA REIF


»Kling Klang: Vom Sich-nicht-westdeutsch-Fühlen«

Steck dir die halbe Tüte Erdnusschips in deinen …

»… zuckersüßen Mund!«, schreit mir der halbe Raum entgegen. In spätestens 20 Sekunden wird die Hälfte aller Anwesenden zum Schunkeln übergehen, Arm in Arm, nostalgisch lächelnd. Die andere Hälfte der Partygäste wird diese Ekstase irritiert beobachten und sich spätestens beim zweiten Refrain fragen, in welchem Paralleluniversum sie sich gerade befindet. (Spoiler: Kein Paralleluniversum, nur Ostdeutschland.)

Ja, »Kling Klang« spaltet nicht nur manche Partygesellschaft, sondern streng genommen das ganze Land. Eine Trennlinie wie der Weißwurst-Äquator. Jung und Alt, Nachwendesozialisierte wie DDR-Generation: Jeder kennt es, jeder feiert es – vorausgesetzt man stammt aus dem Kling-Klang-Gürtel aka Ostdeutschland. In Westdeutschland stößt der Ohrwurm auf Kopfschütteln. Dabei liegt die Erstveröffentlichung deutlich nach der Wiedervereinigung: 1993 brachten Keimzeit ihren Hit zum ersten Mal auf einem Album raus und verweigern in diversen Interviews, sich als »Ostband« pauschalisieren zu lassen. Doch Fakt ist: Der durchschnittliche Wessi hat den Song noch nie gehört.

Komm und lass uns heute noch nach England fliegen God save the Queen

Ich bin in Süddeutschland geboren, waschechter »Nachwende-Wessi«. Bevor ich vor einem Jahr nach Leipzig zog, war die Wiedervereinigung für mich irgendwas zwischen Geschichtsbuch und Museumsgrafik; Mauerbau und -fall schwarz-weiß im Gedächtnis abgespeichert. Hier in Leipzig dachte ich plötzlich über Ost-West-Unterschiede nach. Über verwirrende Gebäck-Terminologien zum Beispiel: Wer zur Faschingszeit in eine Bäckerei spaziert, um arglos einen Krapfen zu bestellen, gerät ins Pfannkuchen-Eierkuchen-Gewirr. Auch von Spritzkuchen, Soljanka oder »Ragufeng« (Ragout fin) hatte ich noch nie gehört. In meiner ersten Stadtratssitzung wurde knapp zehn Minuten über DDR-Jargon diskutiert – ein Wort, das mir in fünf Jahren süddeutscher Kommunalpolitik-Berichterstattung kein einziges Mal untergekommen ist. Statt Christkind kommt hier der Weihnachtsmann, die Ampelmännchen sind cooler, die Kirchturm-Rate geringer und die FKK-Bereitschaft höher. Einschulung ist hier ein riesiges Ereignis, während es im Westen mit einem zufälligen Wochentag, einer Schultüte und vorherrschender Nichtbeachtung quittiert wird. Russisch ist hier ein übliches Schulfach, im Westen exotische Sprachkenntnis.

Bloß von hier weg, so weit wie möglich Bis du sagst, es ist Zeit, wir müssen aus Feuerland zurück, nach Hause

Und, ein entscheidendes Detail: Ich fühle mich nicht westdeutsch. Null. Süddeutsch vielleicht oder europäisch, aber so gar nicht westdeutsch. So geht es nicht nur meinem westdeutschen Dunstkreis, sondern auch 76 Prozent aller Westdeutschen zwischen 18 und 29 Jahren, wie die Otto-Brenner-Stiftung 2019 herausgefunden hat: Über die Hälfte aller westdeutschen Befragten sieht keinen Unterschied mehr darin, aus welchem Teil Deutschlands man stammt. Unter ostdeutschen Jugendlichen ist das anders: 65 Prozent sehen darin durchaus einen Unterschied und fühlen sich außerdem mit dem Osten verbunden. Nur in einer Sache sind sich Ost- und Westdeutsche einig: 75 Prozent aller Befragten geben an, dass die Wiedervereinigung zu lange her ist, um für sie persönlich noch eine Rolle zu spielen.

Für meinen Geschmack sind die mühsame Suche nach Unterschieden, die mediale Dauerthematisierung, der exotisierende Blick aus dem Westen vor allem eins: unnötig. Das Einzige, was daraus resultiert, sind Klischees, Pauschalisierungen und Vorurteile, die immer wieder an eine neue Generation weitergegeben werden. Das heißt keinesfalls, dass wir nicht über ernste strukturelle und finanzielle Ungleichheit reden sollten – im Gegenteil. Aber vielleicht können wir uns einfach drauf einigen, dass zusätzliche Feiertage cool sind, Spritzkuchen lecker und Handbrot auch. Und dass »Kling Klang« ein geiler Partyhit ist – aber das steht sowieso außer Frage.

Kling Klang, du und ich, die Straßen entlang.


Kommentieren


0 Kommentar(e)