Mit einem Leipziger Filmteam inszenierte Regisseurin Mia Hansen-Løve (»Eden«) ihren neuen Film »Bergman Island«. Die Dreharbeiten auf der entlegenen norwegischen Insel Fårö mit den Darstellern Vicky Krieps und Tim Roth stellte die Leipziger Neue Bioskop Film vor logistische Herausforderungen. Heraus kam ein faszinierender Film über das Filmemachen, der seine Premiere im Wettbewerb von Cannes feierte und in dieser Woche in den Leipziger Kinos startet.
Film der Woche: Mia Hansen-Løves Filme werfen stets einen persönlichen Blick auf die Geschichte. Sei es die Entstehung der French-House Szene in den frühen Neunzigern mit dem Blick ihres Bruders in »Eden« oder der Verlust der Mutter in »Alles was kommt«. Ihr neues Werk »Bergman Island« geht noch einen Schritt weiter. Die Französin, die mit dem deutlich älteren Filmemacher Olivier Assayas (»Personal Shopper«) verheiratet ist, erzählt von der Beziehung der jungen Autorin Chris zu dem deutlich älteren Regisseur Tony, die gemeinsam auf die Insel Fårö reisen. Das entlegene Eiland, das auch Hansen-Løve und Assayas oft bereisten, war die Wirkungsstätte Ingmar Bergmans und ist heute Pilgerstätte unzähliger Bergman-Fans. Chris und Tony sind Künstler und der Neid auf den Erfolg des anderen lässt sich in einer solchen Beziehung wohl nie ganz ausblenden. Während Tony die idyllische Natur kreativ beflügelt, steckt Chris in ihrer Handlung fest. Die Realitätsebenen zerfließen und über allem schwebt der Geist von Bergman. Man muss sein Werk nicht kennen, aber es hilft, um sich Mia Hansen-Løves Film zu erschließen. Schicht um Schicht verdichtet sie fast unbemerkt ihren Plot, der einem eigentümlichen Rhythmus folgt. Nicht zuletzt ist »Bergman Island« auch ein Film über das Filmemachen, oszillierend zwischen Wahrheit und Fiktion und wunderbar getragen von Vicky Kriebs (»Der seidene Faden«) und Tim Roth.
»Bergman Island«: ab 4.11., Passage Kinos
Samar und Lohan sind tolle Protagonistinnen für einen Dokumentarfilm. Sie funkeln und tragen mit ihrer Ausstrahlung jede Szene. Drei Jahre lang haben die Filmemacher Laurentia Genske und Robin Humboldt die syrischen Trans-Schwestern mit der Kamera begleitet. Einfühlsam erzählt ihr Film von den Konflikten in ihrem Leben, die zunehmend je weiter sie sich ihrem eigentlichen Geschlecht annähern, auch körperlich zu Frauen werden. Vor allem ihre konservativen muslimischen Eltern haben große Schwierigkeiten mit den Veränderungen. In einer erschütternden Szene erklärt der Vater, dass seine Töchter in Syrien in Lebensgefahr schwebten. Die Verachtung anderer Familien für die beiden verfolgt ihn und seine Frau bis in die deutsche Geflüchtetenunterkunft am Rand von Stuttgart. Wie sie dennoch versuchen zu verstehen, was mit ihren Kindern geschieht, gehört zu den berührenden Stellen in Genskes und Humboldts Dokumentarfilm. Vielleicht gerade auch, weil hier nicht alles harmonisch aufgelöst wird. Weil offen bleibt, was für Eltern und Kinder unvereinbar ist: Die Religion und der eigene Körper. Die Eltern können nicht anders als die geschlechtsangleichende Operation ihrer Kinder als Sünde sehen. Gleichzeitig bedeutet das eben nicht, dass sie aufhören mit Samar und Lohan zu reden. Visuell konventionell inszeniert, liefert »Zuhurs Töchter« auf inhaltlicher Ebene wichtige Denkanstöße.
JOSEF BRAUN
»Zuhurs Töchter«: ab 4.11., Luru Kino in der Spinnerei
Die Wellen peitschen an die kalkweißen Klippen in Dorset in den 1840ern. Die rauhe Küste im Südwesten Englands hat Mary Anning geprägt. Tagsüber streift die verschlossene Frau den Strand entlang auf der Suche nach Fossilien. Abends kümmert sie sich um ihre betagte Mutter. Ihre Fundstücke ermöglichen den beiden ein kärgliches Auskommen. Während sie sich vor den wohlhabenden Frauen im Ort versteckt, werden ihre prähistorischen Fundstücke im British Museum in London zur Schau gestellt. Doch die Loorbeeren ernten andere. Ihr Leben ändert sich als der Geschäftsmann Roderick Murchison sie aufsucht und sie bittet, sich um seine Gemahlin Charlotte zu kümmern. Die schüchterne junge Frau leidet unter Depressionen. Die Seeluft soll ihr gut tun. Und tatsächlich setzt die Begegnung der beiden Frauen Gefühle frei, denen sie sich bald nicht mehr erwehren können. Bereits in seinem vielfach preisgekrönten Film »God‘s Own Country« erzählte Regisseur Francis Lee von einer unverhofften homosexuellen Liebe. Für seinen zweiten Langfilm kann er auf zwei Charakterdarstellerinnen bauen: Kate Winslet spielt die Forscherin mit Zurückhaltung und Würde, Saoirse Ronan entwickelt Charlotte vom leblosen Anhängsel zu einer strahlenden, selbstbewussten Frau. Nicht zuletzt rückt Lee auch eine einflsusreiche Paläontologin in den Fokus, die bis heute weitgehend auf ihre Rolle als Inspirationsquelle für einen englischen Zungenbrecher reduziert ist (»She sells seashells by the sea shore«).
»Ammonite«: ab 4.11., Passage Kinos
In letzter Zeit verschwinden immer wieder Kinder vom Erdboden. Und auch Meerschweinchen lösen sich in einem seltsamen blauen Licht auf. Sie landen in einer fremden Welt, der Welt ihrer Phantasie. Jedes Kind hat seine eigenen Orte, an denen es sich zuhause fühlt oder an die es sich wünscht – ihre „Wunderkammer“. Wir Zuschauer dürfen sie an diese Orte begleiten. Im Film erzählt Roja der Kinderreporterin Dorothea von ihrer Flucht aus Afghanistan. Sie berichtet von ihren Ängsten bei der Überquerung des Meeres. In Rojas Wunderkammer ist sie eine Meerjungfrau, die durchs Wasser gleitet. Wisdoms Eltern sind aus Kamerun nach Tübingen gekommen. Ähnlich wie Roja und die anderen Kinder hat er Ausgrenzung und Rassismus erlebt. In seinen Träumen ist er stark wie sein Onkel, der einen Löwen bezwang. Elias wohnt in Dresden. Er begeistert sich für alles was mit Technik zu tun hat. Doch im Unterricht hat er es schwer. Er braucht lange um Dinge zu begreifen und findet keine Freunde. In Elias Vorstellung gibt es einen Planeten, auf dem er mit seinem Roboter und den Meerschweinchen wohnt. Auch Joline wünscht sich manchmal weg aus ihrem Alltag. Ihre Eltern haben sich getrennt und seitdem wechselt sie immer wieder zwischen zwei Haushalten, dabei will sie eigentlich nur Kind sein. Die Leipziger Regisseurin Susanne Kim (»Trockenschwimmen«) hat die Kinder begleitet und mit ihnen den Film gestaltet. Darüber hinaus entstand auch eine Virtual Reality-Erfahrung, in der man unmittelbar in die Welten der Kinder eintauchen kann. So ist „Meine Wunderkammern“ ein Filmprojekt, das ehrlich mit den Träumen und Wünschen der Kinder umgeht und damit auch anderen Kindern Mut machen kann.
»Meine Wunderkammern«: ab 4.11., Passage Kinos
Der Teenager Kojo wünschte, sein Vater wäre stolz auf ihn. Doch der widmet seine Aufmerksamkeit voll und ganz Kojos großem Bruder Kofi. Er soll das Geschäft des Vaters übernehmen. Kojo muss derweil die Schule besuchen, um einmal die Familie zu ernähren. Um die Gunst seines Vaters zu erlangen, beschließt er aus dem Slum in der ghanaischen Hauptstadt Accra auszubrechen und nach Deutschland zu fliehen. Sein Ziel: ein „Borga“ zu werden, der es im Ausland zu Reichtum gebracht hat. Doch die Realität als illegaler Einwanderer sieht anders aus, als er es sich vorgestellt hat. Die Szenen der Flucht lässt York-Fabian Raabe in seinem mitreißenden Spielfilmdebüt bewusst aus, doch die Ereignisse haben Kojo geprägt. Eindrucksvoll verkörpert ihn Eugene Boateng, der auch maßgeblich an der Entwicklung des Films beteiligt war. Der Produktion der Stuttgarter east end film gelingt es, die Geschichte einer Migration aus der subjektiven Perspektive zu erzählen. So wirft „Borga“ einen ernüchternden Blick auf Afrika und aus Afrika heraus auf Europa.
»Borga«: Passage Kinos
Weitere Filmtermine der Woche
Der Entschluss
Deutschland 2020, Regie Nancy Brandt, 62 Minuten
Die bewegende Geschichte der letzten Flüchtlinge aus der DDR.
Kinobar Prager Frühling, 9.11. 18 Uhr
Der Fall Liebknecht/Luxemburg
Deutschland 1969, Regie Theo Mezger, 185 Minuten
Zweiteiliges Fernseh-Dokumentarspiel über die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg am 15. Januar 1919, deren Hintergründe und den darauf folgenden Prozess gegen die Täter.
Nato, 7.11., 18 Uhr
Der geteilte Himmel
DDR 1964, Regie Konrad Wold, 114 Minuten
Die Verfilmung von Christa Wolfs Roman lehnt sich formal an die französische Nouvelle vague an und lief in der DDR zunächst sehr erfolgreich. Heute gilt der Film als eine der ambitioniertesten und zugleich kritischsten DEFA- Produktionen.
Kinobar Prager Frühling, 9.11., 19.45 Uhr
Du sollst nicht lieben
Deutschland, Frankreich, Israel 2009, Regie Haim Tabakman, 90 Minuten
Aaron führt ein unaufgeregtes Leben im ultra-orthodoxen Stadtteil Jerusalems. Das ändert sich als eines Tages der junge Student Ezri seinen Laden betritt. Coming-Out-Film von Haim Tabakman mit Ran Danker und Tzahi Grad.zunächst sehr erfolgreich. Heute gilt der Film als eine der ambitioniertesten und zugleich kritischsten DEFA- Produktionen.
Pöge-Haus, 5.11. 20 Uhr
Heimatkunde
Deutschland 2021, Regie Christian Bäucker, 89 Minuten
Berichte vom Leben in der DDR und Erlebnisse aus dem DDR-Schulalltag. Im Anschluss Filmgespräch mit Regisseur Christian Bäucker.
Cinémathèque in der Nato, 10.11. 19 Uhr
Im stillen Laut
Deutschland 2019, Regie Therese Koppe, 74 Minuten
Erika und Tine sind beide 81 und seit über 40 Jahren ein Paar. Zusammen leben und arbeiten sie auf dem Kunsthof Lietzen in Brandenburg – und blicken auf ein bewegtes Stück gemeinsame Geschichte zurück.
Kinobar Prager Frühling, 7.11. 16 Uhr
Karlsbrücke und andere Kurzfilm aus der 7. Kino-Datsche
Zum siebten Mal entstanden Kurzfilme in der Kino-Datsche. Heute Abend gibt es einen Eindruck vom internationalen Kinokabarett zum Selbermachen.
Ost-Passage-Theater, 10.11., 20 Uhr
King Otto
GB/GR/USA 2021, Regie Christopher André Marks, 82 Minuten
Cinestar, 10.11. 20:15 Uhr
Kurzfilmprogramm: Gegen das Vergessen
Radfahrer (2018), Detektive oder: die glücklosen Engel der inneren Sicherheit (D 2006), Halmaspiel (D 2018), Der übers Meer kam (D 2020)
Kinobar Prager Frühling, 10.11. 18 Uhr
Leben leben
Deutschland 2021, Regie Stefan Haunstein, 51 Minuten
Der Weg zweier Patienten in einem Maßregelvollzug und der innere Kampf weg von der Kriminalität und Drogensucht, hin zu einem geregelten, »normalen« Leben. Anschließend Filmgespräch
Cinémathèque in der Nato, 11.11., 19 Uhr
Leipzig im Herbst
Die zwei ersten Filme des Leipzig-Zyklus von Andreas Voigt. Alfred, ein Leipziger Einsiedler, der aus seinem Leben erzählt, und die Ereignisse von »Leipzig im Herbst« 89.
Lixer, 4.11. 20:30 Uhr
Sasha Waltz – Ein Porträt
Deutschland 2014, Regie Brigitte Kramer, 153 Minuten
Passage-Kinos, 5.11. 16 Uhr
Schocken – Ein deutsches Leben
Israel 2021, Regie Noemi Schory, 82 Minuten, OmU
Der jüdische Unternehmer Salman Schocken gründet in Zwickau 1904 eine Kaufhauskette mit einer bahnbrechenden Geschäftsidee: Er will den Lebensstil der »kleinen Leute« mit modernem Design revolutionieren – und verbindet modernes Management mit sozialen Leistungen für seine Angestellten.
Kinobar Prager Frühling, 7., 9.11.
Stollen
Deutschland 2020, Regie Laura Reichwald
Der Ort Pöhla im Süden Sachsens blickt auf ei- ne 800-jährige Geschichte des Bergbaus zu- rück. Zur Weihnachtszeit herrscht dort heute Hochsaison. Porträt einer Arbeiterregion zwi- schen Tradition und Moderne. In Anwesenheit des Produzenten Jürgen Kleinig.
Passage-Kinos, 11.11., 18 Uhr
Stretchy-Feely
Filmprogramm im Rahmen der Programmreihe »Of Things Baroque«
KV – Verein für zeitgenössische Kunst Leipzig, 7.11. 19:30 Uhr
The Pilot
Russland 2021, OmU, 107 Minuten, Regie Renat Davletyarov
Russische Heldengeschichte im Zweiten Weltkrieg.
Cinestar, ab 7.11.
Regina-Palast, 7.11., 17 Uhr
Wem gehört mein Dorf?
Deutschland 2021, 100 Minuten, Regie Christoph Eder
Ein Dorf an der Ostsee wehrt sich gegen den Ausverkauf. – Globale
Neues Schauspiel Leipzig, 4.11., 20 Uhr