Eucaris Guillen ist immer mittendrin. Am Nachmittag, kurz nach dem kreuzer-Gespräch, findet eine Filmpremiere in der Schaubühne Lindenfels statt. Sozial benachteiligte Kinder aus dem Stadtteil Schönefeld haben ihre Welt mit der Kamera eingefangen. Heute wird der rote Teppich für sie ausgerollt. Bevor das Interview beginnt, müssen deshalb noch Filme verschickt und Anrufe getätigt werden. Aber auch im folgenden Gespräch wirkt sie nie gestresst, nimmt sich Zeit und öffnet sich und ihre Arbeit für unsere Fragen.
kreuzer: Sie sind wegen einer Wette nach Leipzig gekommen. Was war da los?
Eucaris Guillen: Ich stamme aus Panama-Stadt und bin 1988 zum Studium nach Leipzig gekommen. Ein Freund der Familie meinte, junge Leute sollten unbedingt Auslandserfahrungen machen, und fragte mich immer wieder, ob ich mich nicht für ein Stipendium bewerben möchte. Ich habe zugesagt, es aber nie gemacht. Er meinte, es sollte nicht in den USA oder Kanada sein. Europa würde besser zu mir passen. Ich war sehr glücklich zu Hause. Da fragte er erneut und fügte hinzu: ›Du traust dich nicht. Lass doch das Schicksal entscheiden, gib die Unterlagen ab und wir werden sehen.‹ Und das Schicksal hat entschieden. Ich habe dann meinen Eltern gesagt, dass ich nach Deutschland gehe. Die Worte ›demokratische Republik‹ habe ich nicht wahrgenommen.
kreuzer: Sie wussten nicht, dass Sie in die DDR kommen?
Guillen: Eigentlich nicht. Ich hatte überhaupt keine Ahnung. Das hat sich dann schnell geklärt beim Ankommen am Flughafen Berlin-Schönefeld. Ich fragte mich, wo die ganzen Porsches und BMWs sind. Da ahnte ich, wo ich bin. Ich wusste schon von der Teilung, weil ich Familie im Westen hatte. Die habe ich dann auch drüben besucht, konnte also beide Teile sehen.
kreuzer: Sie konnten ausreisen?
Guillen: Ich durfte als einziger junger Mensch zwischen Rentnern im Zug in den Westen sitzen. Im ersten Bahnhof nach der Grenze haben dann tatsächlich Leute in den Zug Bananen und Apfelsinen geworfen.
kreuzer: Wie haben Sie sich in Leipzig gefühlt?
Guillen: Es war so exotisch. Die graue Stadt war ein Schock, es sah aus, als wäre der Krieg gerade vorbei. Also man muss das als Außenstehender sehen. Ich wusste ja nicht, dass es so viele kaputte Häuser gab. Darüber erfuhr man nichts, wenn man sich als Tourist oder so über die DDR informierte. Die Luft war so verschmutzt, dass das Taschentuch schwarz war, wenn man sich die Nase putzte. Ich habe Drucktechnik studiert und in unserem Labor wurden die Buchstaben noch mit Blei gegossen. In Panama war ich öfter in einer Druckerei. Dort hatte man schon begonnen, mit digitalem Filmbelichter zu arbeiten.
kreuzer: Sie kamen sich wie in einem Entwicklungsland vor? Warum sind Sie trotzdem geblieben?
Guillen: Ja, es war schon interessant. Ich war ja überhaupt nicht vorbereitet. Ich erhielt die Zusage fürs Stipendium und drei Wochen später war ich in Leipzig. Ich war jung und es war ein Abenteuer. Ich bin kein Mensch, der Sachen nicht beendet, also habe ich fertig studiert. Ich bin pflichtbewusst, vielleicht ist das durchgesickert durch die Generationen – ich habe einen deutschen Urgroßvater.
kreuzer: Sie sprachen aber kein Deutsch?
Guillen: Deutsch konnte ich natürlich überhaupt nicht. Nun lernte ich, dass es Worte gibt, die nur aus zwei Buchstaben bestehen, wie Ei. Das war alles faszinierend und ich kam aus dem Staunen nicht heraus, besonders an den Fleischtheken. Die Leute bestellten hiervon zwei Scheiben, davon vier usw. Und das wurde alles im Kopf zusammengerechnet, lange Listen, ohne Hilfsmittel – unglaublich. Das kannte ich nicht. Milch in Glasflaschen und die Menschen haben die Alufolie von den Schokoweihnachtsmännern wiederverwendet und die Pausenbrote darin eingepackt. Ich hab nicht schlecht geschaut, als ich das bei meinen Kommilitonen sah. Das kannte ich nicht, Panama ist ein sehr kapitalistisches Land. In der DDR gab es keine Werbung, es gab keine Überflutung und man konnte auf eine Weise freier atmen. Es war exotisch.
kreuzer: Das änderte sich rasch. Wie haben Sie die Wende miterlebt?
Guillen: Natürlich war ich mit den Kommilitonen auf den Montagsdemonstrationen. Ich glaube, die Wende ist auf die Leute unvorbereitet zugekommen, wie das Stipendium auf mich. Vielen fehlte dann die Orientierung, sie waren frustriert. Alle Pläne galten nicht mehr, die Ersparnisse für den Wartburg oder die Bulgarienreise. Und das hat man als Ausländer gespürt.
kreuzer: Vom Rassismus sind Sie nicht verschont worden?
Guillen: Nein.
kreuzer: Warum sind Sie geblieben?
Guillen: Mein Vater hätte nicht akzeptiert, dass ich mein Studium abbreche, weil Menschen mir gegenüber unfreundlich waren oder mich beleidigten. Und wäre ich nach dem Studium zurückgegangen, hätte ich wieder in meinem ehemaligen Kinderzimmer gewohnt. Das wollte ich nicht als selbstständige Frau, die hier ihre Persönlichkeit zu Ende entwickelt hat. Zurück in ein katholisches Land, wo meine Mutter mich liebmeinend gefragt hätte, warum ich erst um drei Uhr nachts nach Hause komme. Wieder in die Kind-Rolle zu fallen, war der eigentliche Grund. Und natürlich habe ich viele liebe Menschen hier kennengelernt, die ganz anders positioniert waren. Ich entdeckte Connewitz für mich, wo ich mich frei bewegen und sicher fühlen konnte. Das hat vieles verändert, denn es gab eine Zeit, in der ich große Angst hatte.
kreuzer: Wann waren Sie mit dem Studium fertig?
Guillen: Oh, ich habe etwas länger studiert. Das Stipendium lief aus und ich finanzierte die zwei letzten Studienjahre selbst. Ich habe zum Beispiel in der Psychiatrie gearbeitet, Leute gewaschen und geputzt. 1994 wurde ich dann fertig. Ich hatte immer ein Interesse an Grafik. Da es die Zeit war, wo alle Webdesigner wurden, wurde ich das auch. Ich machte ein Praktikum, das man mir dann als Probezeit anrechnete. Und so begann mein Weg in Richtung Medien und Kommunikation. Danach habe ich ein Fernstudium als PR-Beraterin gemacht.
kreuzer: Und wie sind Sie in die Kulturszene gerutscht?
Guillen: Das begann eigentlich schon während der Studienzeit, wo ich in der Moritzbastei jobbte. Später habe ich dann nach einigen Jahren in der Marktforschung gemerkt, dass mich das nicht glücklich macht. Und dann habe ich den sicheren Weg verlassen und Stück für Stück mehr im Kulturbereich gearbeitet. Und 2014 bekam ich dann die große Chance, auf der Karl-Heine-Straße den Westbesuch mit zu organisieren.
kreuzer: Wie kam das?
Guillen: Die Schaubühne hat mich gefragt, weil ich ihnen empfohlen wurde. Die Idee war, die Straße belebter zu machen. Straßenfeste haben hier seit den Neunzigern Tradition. Als der Westbesuch weiterzog, hatte man 2015 die Idee, mit »Bohei & Tamtam« ein Straßenfest mit einem neuen Konzept zu feien. Und das war wieder eine Chance für mich. Das Leben hat es oft gut gemeint mit mir.
kreuzer: Sie wollten den Leipziger Westen nicht aufgeben und haben etwas Eigenes mit dem »Kino Fino« realisiert?
Guillen: Das war in dem Moment, wo ich mir dachte, ich muss etwas machen, was mit Events, mit Kreativität zu tun hat. So kam die Idee mit dem »Kino Fino« an einem Wochenende. »Familie Feuerstein« hatte eigentlich die Inspiration dazu gegeben. Wir schauen heute noch so gut wie kein Fernsehen zu Hause. Als ich meine Tochter eines Tages von der Oma abholte, liefen im Fernseher die »Feuersteins« und alle lachten. Und ich dachte: Was ist daran witzig? Wenn man fremdsprachige Serien auf Deutsch sieht, ist es eine ganz andere Sache. Der Witz ist anders. Da dachte ich mir, wenn wir einen Trickfilm zusammen im Kino auf Spanisch schauen könnten, wäre das toll. Wenn wir zusammen lachen, dann kann meine Tochter wirklich sehen, was Humor ist. Da kam die Idee, das halt im Kino zu machen, weil es hier so etwas für Kinder nicht gibt.
kreuzer: Sie fanden das Cineding als Partner?
Guillen: Ich hatte gefragt, ob ich für mein Kind und Freunde mal einen Film zeigen könnte. Die fanden das total klasse. In der Vorbereitung dachte ich mir, wenn ich zwei Kinosäle habe, dann mach ich noch eine Sprache. Und dann liefen am Ende an dem Wochenende vier Filme in Italienisch, Englisch, Arabisch und Spanisch. Das war als einmalige Sache geplant. Es war verrückt, es kamen fünfzig Leute zu diesen vier Vorstellungen. Und ein Jahr später kamen zehn mehr. Dann wurde der Verein gegründet und eines der Vereinsmitglieder kam auf die Idee, es auch Schulen anzubieten. Und 2019 hatten wir 929 Besucher und Besucherinnen beim »Kino Fino«.
kreuzer: Leipzig hat großen Zuzug erlebt …
Guillen: Es kommen immer mehr Menschen von außen. Es ist noch nicht Berlin und das ist auch ganz gut so. Es ist entspannt hier, aber sehr viel lebendiger, internationaler.
kreuzer: Ihnen bereitet das junge Publikum besondere Freude?
Guillen: Kinder und Jugendliche sind für mich ein wichtiges Thema und es geht mir auch um sozial benachteiligte Kinder. Seit den neunziger Jahren, bevor ich einen eigenen gründete, habe ich mich immer ehrenamtlich in Vereinen engagiert. Ich bin mit anderen in Asylheime gegangen, habe sie ein bisschen begleitet. Mit »Kino Fino« haben wir Filme auch in Erstaufnahmestellen vorgeführt. Es ist schon eine andere Erfahrung, wenn man drin ist und sich das von innen anschaut, wie die Leute leben. Da kam die Idee, ein Projekt zu machen, wo die Kinder aktiv werden: die Initiative Aktives Gestalten. Es war klar, dass dieses Angebot nicht für privilegierte Kinder sein sollte, sondern für Kinder, die diese Chance nicht haben. Dann haben wir angefragt in verschiedenen Clubs. Das erste Projekt haben wir in Eutritzsch gemacht mit der Arche. Filme mögen ist eine Sache, sie selbst zu drehen eine andere. Aber es hat gut funktioniert. Dann haben wir uns verschiedene Clubs angeguckt. Selbst in Schönefeld wurde uns wie in anderen Clubs gesagt: »Unsere Kinder interessieren sich nicht für Kunst und Kultur. Aber wenn Sie das probieren wollen, kommen Sie hierher, stellen Sie sich vor und mal sehen.« Und letzte Woche haben wir mit 16 Kindern gedreht. Man muss diese Talente sehen. Man muss kämpfen. Wenn du vor Ort bist und die Menschen kennenlernst, dann stellst du fest, es gibt eine Menge arme deutsche Kinder, vernachlässigte, emotional verwahrloste Kinder. Deswegen liegt der Fokus jetzt nicht auf Migration.
kreuzer: Werden Sie von der Stadt unterstützt?
Guillen: Ich bin der Stadt Leipzig natürlich mit den Förderprogrammen sehr verbunden und dankbar. Sie hat mittlerweile erkannt, dass die eigenen Migranten auch zu Wort kommen sollen, aber als normale Bürgerinnen und Bürger. Die stammen aus einer anderen Kultur, haben andere Erfahrungen gemacht, aber sind letztendlich weitere Bürgerinnen und Bürger, die hier leben. Weitere Stimmen, die zu Wort kommen müssen. Die Dinge sind auf einem guten Weg. Aber die Bürokratie ist zu langsam und kompliziert. Ich glaube, dass einige in der Wirtschaftsförderung vielleicht vergessen haben, wie es in der Freien Szene ist, unter welchen Bedingungen man da arbeitet. Es geht langsam voran, aber ich treffe immer wieder auf Leute, die offen sind, die gerne etwas bewirken wollen, aber gebremst werden.
kreuzer: Was ist für Sie Heimat?
Guillen: Das ist ein schwieriges Wort. Beinahe hätte ich gesagt: hier. Heimat ist der Ort, an den man gerne zurückdenkt, gerne zurückkehrt, an dem man keine Eile hat, wegzugehen. Die Welt ist groß, bietet viele Möglichkeiten und will auch gesehen werden. Aber Heimat ist ein Ort, an dem man gerne verweilt, mit dem man schöne Erinnerungen verbindet und einen Stolz. Und damit haben Deutsche ein Problem. Diesen Heimatstolz empfinde ich für Leipzig. Das merke ich, wenn große Veranstaltungen sind wie die Fußballweltmeisterschaft oder das WGT. Wenn viele Menschen in die Stadt strömten, kam in mir immer das Gefühl auf: All diese Menschen schauen sich unsere schöne Stadt an. Nicht die schöne Stadt – unsere! Es ist auch meine Stadt, meine Heimat. Mein Herz ist zweigeteilt. Wenn ich in Panama bin, bin ich sehr gerne dort und habe keine Eile wegzugehen. Vor Corona habe ich es geschafft, sechs Wochen dort zu sein und von dort aus arbeiten zu können, eine Mischung aus Arbeit und Urlaub. Da hatte ich keine Eile wegzugehen. Ich war gerne dort und ich bin gerne hier. Ich hoffe nicht, mich irgendwann entscheiden zu müssen. Ich wüsste nicht, wie.
kreuzer: Im Dezember finden die »Lichtspiele des Westens« im fünften Jahr statt. Wie kam es dazu?
Guillen: Die Gewerbetreibenden kamen auf uns zu und wollten eigentlich im selben Turnus wie der »Westbesuch« vier Mal im Jahr so ein Fest haben auf der Karl-Heine-Straße. Aber das ist einfach zu viel, dieser ganze Kommerz und die Arbeit, die dahinter steckt. Dann habe ich gedacht, wie kann man eine andere Art von Veranstaltung im Winter realisieren? Die Schwierigkeit ist, vielleicht hast du einen Winter, wo man mit dem Pulli rauskann. Aber es können auch zehn Zentimeter Schnee liegen. Was die Leute wollen, ist, dass es hier leuchtet – also ein Lichtfest. Weit weg vom Konsumgedanken und es soll auch nicht konkurrieren mit den Weihnachtsmärkten. Es soll die Leute dazu animieren, vor Ort zu bleiben und ihren Ort anders wahrzunehmen. Deshalb riefen wir die Leute auf, mit Licht zu spielen, selber etwas zu gestalten und sich am Wettbewerb zu beteiligen. Und das geht von Bauchtanz über ein Konzert am Fenster bis zu Videoinstallationen. Wir hatten an einem Eckhaus im letzten Jahr Queen Elizabeth, die immer gewunken hat vom Fenster aus. Die Installation hat dann einen Preis gewonnen. Oder jemand hat sein Fahrrad aus dem Fenster gehängt, im ersten Stock, mit einer Papp-Kackwurst und der Aussage »Scheiß Fahrradwege«. Auch das hat einen Preis gewonnen. Die Leute werden selbst kreativ. Die Leute werden ermutigt, ohne darüber nachzudenken, ob sie große Künstler sind oder nicht. Das ist für mich so ein Moment, wo ich denke: Irgendwie muss man seinen Ort gegen Gentrifizierung auch verteidigen. So erobern sie die Läden für einen Tag zurück. Es ist ein nachbarschaftliches Fest. Gäbe es nicht eine soziale Komponente, wäre es für mich nicht interessant.
kreuzer: Sie wurden kürzlich für Ihr Engagement mit der Goldenen Ehrennadel der Stadt ausgezeichnet. Wie fühlt sich das an?
Guillen: Bei der Verleihung hat der Oberbürgermeister gesagt, wie toll das ist. Da hab ich ihm ehrlich gesagt: »Ich mache das eigennützig. Ich möchte ein Stückchen dazu beitragen, zu der Gesellschaft, in der ich lebe. Das ist für mich eine Möglichkeit, dazu beizutragen, dass die Gesellschaft eine schöne ist, so wie ich sie mir vorstelle.« Ich würde mir wünschen, dass die Leute einfach Mut haben, aktiv zu werden. Dass sie sich trauen.
INTERVIEW: TOBIAS PRÜWER UND LARS TUNÇAY
FOTO: CHRISTIANE GRUNDLACH