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Kultur

Lieber erstmal hinsetzen

Bettina Fellmann fordert die Anerkennung der Traurigkeit

  Lieber erstmal hinsetzen | Bettina Fellmann fordert die Anerkennung der Traurigkeit

Unzählige Bücher überfluten den Markt. Linn Penelope Micklitz und Josef Braun helfen einmal wöchentlich auf »kreuzer online« bei der Auswahl. Dieses Mal holt sich Literaturredakteurin Linn Penelope Micklitz die Erlaubnis ab, traurig zu sein.

CoverTraurig, ja beinahe trostlos sind die Zeichnungen von Künstlerin Rebekka Weihofen, doch lösen die schlichten Aubergine-farbenen Skizzen seltsamerweise ein Gefühl des Zuhauseseins aus. Da verwachsen die langgezogenen Glieder einer Person mit den Wänden, ein Mensch wird ins Unendliche reproduziert und aneinander gelegt, sodass sich ein Muster ergibt, dass auch Stühle sein könnten. Der Mensch wird zum Möbelstück und man fragt sich unweigerlich: Sitzt er noch oder ist er schon besessen? Lange Flure, Schächte, alles nur angedeutet, und dadurch umso massiver. Ein Mensch sitzt am Tisch, seine Arme reichen über die Platte, die Hände sind schon nicht mehr im Bild, gibt es sie überhaupt? Schaudern löst das aus, ein Schaudern, das seine Entsprechung im Text findet. »Ein erschöpftes Heft«, heißt es im Untertitel und ja, die schöpferischen Gedanken Fellmanns lassen einen durchaus auch niedergeschlagen zurück. Der Essay der seit 1998 als Krankenschwester arbeitenden Fellmann fasst selbst in einem Satz ganz gut die Absichten der Autorin zusammen: »Ich möchte nicht erklären, was Traurigkeit im Speziellen oder in Abgrenzung zu Depression und Verzweiflung bedeutet. Mir geht es darum zu vermitteln, wie unser bruchstückhaftes da sein mit dem herrschenden Grauen zusammenhängt – und warum es wichtig ist, sich angesichts dessen zu ‚erlauben‘, auch traurig zu sein.« Das herrschende Grauen? Die Verwertungslogik der Marktwirtschaft, die uns ersetzbar macht und gleichzeitig den Individualismus predigt. Wahlweise lähmend oder zerstörend wirke der daraus resultierende Narzissmus. »Dem ‚äußeren Gefängnis‘, das Staat und Gesellschaft bilden, können wir lebend nicht entgehen – und ganz lebendig werden wir darin nicht gelassen«, lautet die Schlussfolgerung.  Und der Appell? »Verwirklichen können wir etwas Besseres nur, wenn wir uns selbst in der Welt aushalten: Wenn wir lernen, mit unseren Beschädigungen gegen die Ursachen zu leben. Das System, das von uns zehrt, verdient nicht, erhalten zu werden.« Ein kluges, trauriges, wunderschönes Heft.

Bettina Fellmann: Zur Verteidigung der Traurigkeit. Ein erschöpftes Heft. Gezeichnet von Rebekka Weihofen. MaroHeft #5. Augsburg: Maro Verlag 2021. 36 S., 16 €

LINN PENELOPE MICKLITZ

 


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