Unzählige Bücher überfluten den Markt. Linn Penelope Micklitz und Josef Braun helfen einmal wöchentlich auf »kreuzer online« bei der Auswahl. Diesmal liest kreuzer-Redakteur Josef Braun den neuen Roman von Rachel Cusk. In »Der andere Ort« arbeitet sich die britische Autorin an realen historischen Vorbildern ab.
Eine Marschlandschaft bei Wind und Regen ist ein faszinierender Ort. Die kleinen Sümpfe, das Wasser, dass sich über flaches Land zieht, die Nähe zum Meer, dazu dicke Tropfen auf der Haut. In solch einer Umgebung siedelt Rachel Cusk ihren neuen Roman an. Dessen Protagonistin M. lebt gemeinsam mit ihrem Mann Tony, einem wortkargen Arbeiter, inmitten der Natur. Beide, Tony und M. führen eine seltsame Beziehung, die auf einem unausgesprochenen Pakt beruht. Jeder gesteht dem anderen seine Eigenheiten zu, denn eigentlich passt M. nicht aufs Land. Sie ist Schriftstellerin, ein Kind der Städte und Museen, die Lebenskrise, in der sie zu Beginn der Erzählung steckt, möglicherweise auch eine Schreibkrise.
Rachel Cusk hat sich für »Der andere Ort« von den Erinnerungen der amerikanischen Kunstmäzenin Mabel Dodge Luhan inspirieren lassen, die in »Lorenzo in Taos« einen Besuch des britischen Schriftstellers D.H. Lawrence in ihrer Künstlerkolonie in New Mexico festhielt. Einige Anachronismen in »Der andere Ort« sind dem Vorbild geschuldet. So ist die Sprache stellenweise umständlich, einzelne Figuren wirken wie aus einem anderen Jahrhundert. Auch dem Genre des Briefromans, das Cusk wiederholt anklingen lässt, wenn ihre Erzählerin alles Erlebte einer Figur namens Jeffers schildert, haftet etwas Unzeitgemäßes an, das den Lesefluss stört.
Gleichzeitig hält die Autorin ihre Erzählung in unserer Zeit, die Pandemie wird angedeutet, dann allerdings nicht weiter ausbuchstabiert. Sie dient als Rahmen für die Figuren, die sich während eines Lockdowns im Haus von Tony und M. einfinden, die Tochter Justine mit ihrem Freund Kurt und der Maler L. mit seiner jungen Geliebten Brett. Cusks große Stärke liegt in der Art und Weise, wie sie Beziehungen zwischen Figuren sezieren kann. Schon in ihrer Outline-Trilogie entlarvten sich die Männer und Frauen durch ihr Sprechen häufig selbst.
In »Der andere Ort« stehen die Beziehungen von M. im Vordergrund, die Ehe mit Tony, die Annäherung an die erwachsene Tochter und die Bewunderung für L., von dem sie sich Rettung aus ihrer Lage verspricht. Doch Rettung ist für keine der Figuren in Sicht, auf die ein oder andere Weise sind sie alle Verlorene in der weiten englischen Landschaft.
Rachel Cusk. Der andere Ort. Berlin: Suhrkamp 2021. 205 S., 23 €
JOSEF BRAUN