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Stadtleben

Fest der Nächstenliebe

Weihnachten ist nicht automatisch Familienfest. Über die Festtage bei der Leipziger Bahnhofsmission und im Kinderheim Tabaluga

  Fest der Nächstenliebe | Weihnachten ist nicht automatisch Familienfest. Über die Festtage bei der Leipziger Bahnhofsmission und im Kinderheim Tabaluga

Weihnachten gilt als das Familienfest. Bei Wörtern wie »Fest der Liebe« oder »Fest der Familie« wissen wohl die meisten, was gemeint ist. Während manche sich tatsächlich freuen, an den Festtagen mit der gesamten Verwandtschaft zusammenzukommen, gleicht bei anderen das Christfest im Familienkreis eher einem Pulverfass, jederzeit bereit zu explodieren. Doch wie feiern die, die Weihnachten alleine sind? Wie ergeht es denen, die die Zeit nicht mit ihrer Familie verbringen können oder wollen?

Eine Anlaufstelle für ebenjene ist die ökumenische Bahnhofsmission. Seit 1913 gibt es das Unterstützungsangebot am Leipziger Hauptbahnhof, mit Unterbrechungen in der NS-Zeit und der DDR. Sie ist ein Lichtblick in der kalten Bahnhofsatmosphäre und kümmert sich um alle Menschen, die in und um den Bahnhof Hilfe benötigen – auch zu Weihnachten. So hat die christliche Einrichtung Heiligabend von 9 bis 14 Uhr und am zweiten Weihnachtsfeiertag von 13.30 bis 18 Uhr geöffnet, erklärt Sozialarbeiterin Sophie Wischnevski. Sie ist seit 2019 hauptamtlich für die Bahnhofsmission tätig, zusammen mit drei weiteren Festangestellten sowie 35 Ehrenamtlichen.

Weihnachten in der Bahnhofsmission falle dieses Jahr pandemiebedingt eher klein aus, sagt sie. »Wir werden keine Adventsfeier in irgendeiner Form gestalten können, weil wir einfach nicht gewährleisten können, dass wir hier ein sicheres Umfeld für die Gäste und uns schaffen können.« Dennoch möchte die Bahnhofsmission ihren Gästen ein Gefühl von Weihnachten ermöglichen. »Neben Kaffee und Tee werden wir alkoholfreien Früchtepunsch ausgeben, selbst gebackene Kekse, Stollen. In unserem Gästeraum werden wir wieder einen kleinen Weihnachtsbaum aufstellen, wo die Gäste ihre Wünsche, Grüße oder Weihnachtsträume aufschreiben können«, berichtet Wischnevski.

Neben Kaffee, Keksen und Co verteilen die Mitarbeiterinnen an den Weihnachtstagen auch Geschenke. Die kommen dieses Jahr von der Propstei-Gemeinde, einer katholischen Gemeinde in Leipzig. »Wir haben eine Liste geschrieben mit Dingen, die obdach- und wohnungslose Menschen gut gebrauchen können – vor allem jetzt im Winter. Das sind warme Klamotten, Mützen und Schals, Taschenwärmer und -lampen, Isomatten, Schlafsäcke oder Powerbanks. Die Gemeinde-Mitglieder können dann Dinge kaufen, in Geschenke verpacken und eine Liste mit ranhängen, was alles drin ist«, sagt Sophie Wischnevski. Danach werden die Pakete bei einem Gottesdienst abgeholt, untergestellt und gelangen zu Weihnachten schließlich an die Bedürftigen.

Ebenjenes Konzept gab es bereits 2019, damals noch inklusive Adventsfeier. Sophie Wischnevski berichtet von rund 50 Geschenken der Propstei-Gemeinde. Letztes Jahr hingegen organisierten die hauptamtlichen Mitarbeiterinnen auf eigene Faust die Geschenke für die Gäste der Bahnhofsmission: Selbst genähte und gestrickte Handschuhe, Schals und Mützen einer Spenderin wurden zusammen mit eigens finanzierten Kleinigkeiten der Mitarbeiterinnen verteilt. Die knapp 130 Geschenke waren schnell weg.

»Generell sind wir durch Corona noch mal stärker in Benutzung gekommen«, sagt Wischnevski. Sie erklärt sich diesen Fakt vor allem durch den Lockdown im Frühjahr 2020. So hatten im März für ein paar Tage alle Hilfseinrichtungen in Leipzig geschlossen. Doch dass ein hoher Bedarf an Unterstützung weiterhin und vor allem in Krisensituationen besteht, war den Mitarbeiterinnen der Bahnhofsmission schnell klar. »Wir sind zügig umgestiegen und haben gesagt: Wir haben die Räume geschlossen, aber wir geben weiterhin Kaffee, Tee und Essen raus. Die Sozialberatung bleibt offen. Das hat sich schnell rumgesprochen, innerhalb von einer Woche hatten wir jeden Tag 25 bis 30 Menschen, die unser Angebot in Anspruch genommen haben«, erläutert Wischnevski.

Seitdem sei die Inanspruchnahme der Dienste der Bahnhofsmission noch weiter gestiegen, viele seien der Hilfestelle im Hauptbahnhof verbunden geblieben. »Inzwischen haben wir eigentlich täglich 60 bis 70 Personen, die uns in Anspruch nehmen«, sagt Sophie Wischnevski.

Volles Haus herrscht auch im Kinderheim Tabaluga. Seit 1984 gibt es das Heim in Mockau-Nord; ein Zufluchtsort für Kinder, die vorübergehend oder generell nicht mehr bei ihren Familien leben können. Das gelb-weiße Flachgebäude mit dem unübersehbaren grünen Drachen neben dem Eingang bietet Platz für 34 Kinder, verteilt auf drei Etagen und fünf Wohngruppen. »Wir sind immer belegt. Der Bedarf ist groß«, sagt Sozialpädagogin Julia Weise.

Weise ist Leiterin des Kinderheims Tabaluga. Sie arbeitet bereits zwölf Jahre im Heim, seit 2015 in leitender Funktion. »Die Kinder sind aus verschiedensten Gründen hier und kommen aus verschiedensten familiären Hintergründen. Zusammenfassend kann man sagen: Es bestand immer eine Kindeswohlgefährdung, weshalb das Kind erst mal in Obhut und aus den Verhältnissen rausgenommen werden musste«, erklärt sie. Das Kinderheim Tabaluga soll den Kindern nun einen Schutzraum ermöglichen, wobei sich insgesamt 34 Mitarbeiterinnen im Schichtsystem um das Wohl der Kleinen bemühen.

Null bis zwölf Jahre sind Kinder, die ins Tabaluga kommen, auch Säuglinge werden aufgenommen. Letztere sind in der Kleinstgruppe untergebracht, welche bis zu sechs Kleinkinder bis zwei Jahre zusammenbringt. Ältere Kids leben altersunabhängig in Wohngruppen zusammen. Dabei gilt: Pro Achter-Wohngemeinschaft, von denen es im Heim insgesamt drei gibt, existiert ein Team von sieben Mitarbeiterinnen.

Die Kinder sollen sich wohl und geborgen fühlen, so das Ziel des Mockauer Kinderheims. »Klar ersetzen wir nicht Familie, aber wir geben den Kindern die Möglichkeit, ihre Erlebnisse zu verarbeiten und Positives erleben zu können. Wir wollen ihnen einfach den Rucksack, den sie eh schon tragen, ein bisschen abnehmen«, sagt Leiterin Julia Weise. Ihr ist es wichtig, den gängigen Klischees von Heimen zu widersprechen: »heimelig und huschelig eingerichtet« seien die Wohngemeinschaften, mit ausreichend Platz und allem Spielzeug, das ein Kinderherz begehrt.

Neues Spielzeug en masse gibt es auch jedes Jahr zu Weihnachten. Schaut man sich die Instagram-Posts des Tabaluga in den Dezembermonaten an, sieht man vor allem eines: Geschenke – stapelweise, liebevoll verpackt und dekoriert. »Unsere Kinder aus dem Kinderheim werden sehr reich beschenkt«, berichtet Julia Weise. So verfügt das Heim neben dem Träger Volkssolidarität auch über einen Förderverein. Dieser hält Kontakt zu vielen Firmen, welche dann Wunschbaumaktionen durchführen, wobei Kolleginnen oder Kundinnen die am Baum aufgehängten Wünsche der Kids erfüllen. Dabei kommt meist so viel zusammen, dass Geschenke im Kinderheim Tabaluga nicht nur Heiligabend, sondern auch an den Feiertagen danach verteilt werden. Insgesamt herrscht an den Festtagen im Mockauer Heim ein volles Programm: Am 24. Dezember wird in den Wohngruppen der Weihnachtsbaum geschmückt, werden Kekse und Milch für den Weihnachtsmann bereitgestellt sowie jenem, wenn er nachmittags die Kinder besucht, Gedichte oder Lieder vorgetragen, erzählt Sozialpädagogin Weise.

An den Tagen danach folgen Winterspaziergänge, Spielzeugtestungen oder traditionelle Weihnachtsessen, führt Leiterin Julia Weise aus. Sie erklärt: »Wir machen das wirklich traditionell.« Zwar ist das Kinderheim kein christliches, aber die eigenen Erfahrungen und Erlebnisse der Mitarbeiterinnen sowie die alljährlichen frohen Reaktionen der Kinder bestätigen das klassische Weihnachtskonzept, bei dem auch schon in der Adventszeit fleißig gebacken, geschmückt und die Adventstage zelebriert werden.

Möglichst schön soll Weihnachten für die Kinder werden. Schließlich gehen nur die wenigsten Kids – meist zwei oder drei – über Weihnachten zu ihren leiblichen Eltern, so Julia Weise. »Alle kann man nicht nach Hause schicken, denn die Kinder sind ja auch nicht ohne Grund hier«, erklärt sie. Was einfacher möglich ist: ein Besuch der Eltern. Sie können zu festgelegten Besuchszeiten und -tagen auch ein wenig Zeit mit dem Kind im Kinderheim Tabaluga verbringen.

NELE REBMANN

Der Text stammt aus der Dezember-Ausgabe 12/21 des kreuzer.


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