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Stadtleben

Viele kleine Hürden

Das Projekt Re-Start in Leipzig unterstützt aus der Ukraine Geflüchtete bei Behördenangelegenheiten

  Viele kleine Hürden | Das Projekt Re-Start in Leipzig unterstützt aus der Ukraine Geflüchtete bei Behördenangelegenheiten

Es ist ein kalter und verregneter Wintertag, als Frank Braun im Familienzentrum Tüpfelhausen auf seine Klientin Diana Melnik* wartet. Um elf sind sie hier verabredet. Nach der Flucht aus ihrem Heimatland ist die Ukrainerin zunächst mit ihrer Familie in einer Leipziger Wohnung untergekommen, die das Familienzentrum angemietet hat. Mittlerweile haben die Melniks eine eigene Wohnung, doch sie müssen noch einige Angelegenheiten klären, wie etwa die Stromanmeldung. Und genau darum möchte sich Braun heute kümmern. Er ist sozialpädagogischer Berater für das Projekt Re-Start in Leipzig und hilft geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern vor allem bei Behördenthemen.

Bei Brauns Ankunft telefoniert Melnik gerade auf Ukrainisch. Doch schon bald legt die junge Frau mit den blond gefärbten Haaren auf und begrüßt ihn auf Deutsch. Als das Übersetzungsprogramm von Braun laut »Привіт!« (Hallo auf Ukrainisch, Anm. d. Red.) antwortet, muss Melnik lachen. Beide sind auf ihr Handy angewiesen, denn die Sprache des Gegenübers sprechen die Klientin und der Berater nicht.

Für die Beratung finden Melnik und Braun schnell einen freien Raum im Familienzentrum. Den Eindruck, dass hier öde Bürokratie-Angelegenheiten besprochen werden sollen, gewinnt man beim Anblick des Zimmers jedoch nicht: Es gibt einen Fernseher, Bücherregale, einige Brettspiele und sogar einen Tischkicker. Sonst verbringen hier Kinder und Familien ihre Freizeit. Doch für kurze Zeit ist es ein bürokratischer Ort. Laut Braun stünden auch richtige Beratungsräume zur Verfügung, aber das Angebot solle so niedrigschwellig wie möglich sein.

Projektbeginn im Herbst 2022

Das Re-Start-Projekt gibt es seit Oktober 2022. Es wird von der Aktion Mensch gefördert und wurde von der BBW-Leipzig-Gruppe initiiert, einem Verbund von Unternehmen, die soziale Einrichtungen und Dienstleistungsbereiche betreiben. Das Beratungsangebot richtet sich einerseits an Jugendliche zwischen 15 und 18 Jahren und ihre Familien, andererseits an Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung. »Wir kommen aus der Jugendhilfe und haben dort natürlich unsere Stärken, auch was den Einblick in das Sozialsystem betrifft. Auch bei den Menschen mit Beeinträchtigungen besitzt das Unternehmen jahrelange Erfahrungen; wir merken, dass zum Beispiel ukrainische Geflüchtete mit einer Hörbeeinträchtigung keine große Präsenz in Leipzig und Deutschland haben. Für sie gibt es zu wenig bedarfsgerechte Angebote«, sagt Frank Braun. Er ist neben seiner Arbeit für Re-Start hauptsächlich in der Jugendberufshilfe des Berufsbildungswerks Leipzig für Hör- und Sprachgeschädigte aktiv und Leiter vom Netz kleiner Werkstätten, das ausbildungs- und arbeitslosen jungen Menschen praktische Tätigkeiten in verschiedenen Werkstätten mit sozialpädagogischer Betreuung anbietet.

»Bis jetzt sind es tatsächlich hauptsächlich diese Behördenthemen, zum Beispiel die Unterstützung beim Beantragen oder Ausfüllen von Formularen. Das fängt bei Rundfunkgebühren an, geht über einen Wohnberechtigungsschein bis hin zur Speiseversorgung der Kinder in den Schulen. Also diese ganz grundsätzlichen Themen des Ankommens«, umreißt Braun seine bisherige Tätigkeit für Re-Start. »Die meisten Geflüchteten wollen arbeiten, ihre Kinder wollen zur Schule gehen, studieren oder eine Ausbildung finden. Jemand, der eine Hörbeeinträchtigung hat, möchte auch was Sinnvolles machen, aber um dahin zu kommen, braucht es erst einmal diesen Sockel an Grundsicherung, etwa eine eigene Wohnung und die Anbindung in der Schule. Es gibt viele kleine Hürden und wir unterstützen dabei, diese zu überspringen, um das umzusetzen, was alle Geflüchteten wollen: teilhaben und sich beteiligen.«

Braun berät aktuell und längerfristig zehn Geflüchtete aus mehreren Familien. Es sollen aber noch mehr werden, weitere Berater und Beraterinnen und weitere Beratene: »Wir versuchen, das Projekt bekannt zu machen und möglichst viele Informationen an möglichst viele Leute zu streuen. Nur durch einen Flyer oder durch den Eintrag auf der Homepage finden die Leute uns nicht. Dieses Aufbauen von Netzwerken und Kontakten ist eigentlich immer die erste große Hürde. Wenn es sich dann einmal herumgesprochen hat, dann hat man genug zu tun.« Die andere große Hürde sei die Sprache: »Ich bin sehr froh, dass es im Internet gute Übersetzungen gibt. Wir haben zwar auch Dolmetscher, aber sie bestellen wir tatsächlich nur für sehr spezielle Themen, wo wir über diese Alltagsberatung hinauskommen.«

Eine einfache Stromanmeldung

Braun kümmert sich auch um die Anliegen der Kinder von Diana Melnik. Doch die Stromanmeldung für deren Wohnung kann kein Kind übernehmen, also spricht er diesmal mit der Mutter. Im Familienzentrum zeigt die Klientin ihm Unterlagen – für Heizung und Wasser ist alles da, doch nichts, was den Strom betrifft. Braun hat für Melnik ein paar Unterlagen auf seinem Laptop vorbereitet und während der hochfährt, berichtet Melnik von einem zweiten Anliegen: Sie hat ein Formular für die Übersetzung ihrer Zeugnisse bekommen, allerdings auf Englisch, eine ukrainische Version gibt es (noch) nicht. Frank Braun kritisiert, dass das bei Formularen selten der Fall sei. Melnik holt zahlreiche Urkunden heraus, doch wegen der Sprachbarriere schlägt Braun vor, für das Zeugnis-Formular einen neuen Termin mit einem Dolmetscher auszumachen. Doch halt, Braun ruft bei der Leipziger Stelle an, die die Unterlagen für die Zeugnisübersetzung ausgestellt hat. Vielleicht besteht die Möglichkeit, dass Melnik ihr Formular vor Ort mit einem Mitarbeiter oder einer Mitarbeiterin ausfüllen kann. Die Kollegin am Telefon muss ihn enttäuschen: Bei ihnen könne niemand Ukrainisch.

Weil das Internet im Familienzentrum nicht funktioniert, ruft Braun bei den Stadtwerken an. Um die Stromanmeldung zu vollziehen, muss dieser beim Grundversorger gemeldet werden. In Melniks Unterlagen fehlt das Wohnungsübergabeprotokoll, auf dem nicht nur der Zählerstand, sondern auch die Zählernummer vermerkt ist. Ohne diese beiden Zahlen könne sie leider nichts machen, versichert die Mitarbeiterin der Stadtwerke Braun am Telefon. Die E-Mail des zuständigen Vermieters sei eventuell noch nicht bearbeitet worden. Oder die fehlenden Unterlagen sind noch auf dem Postweg.

Mithilfe des Übersetzungsprogramms auf dem Handy vermittelt Braun seiner Klientin, dass sie erst einmal warten soll und er sich wieder bei den Stadtwerken melden wird, falls sich in vier Wochen nichts getan haben sollte. Um herauszufinden, wo sich das fehlende Übergabeprotokoll befindet, greift Braun zum dritten Mal zum Telefon. Doch statt der Vermieter von Melniks Wohnung erreicht er nur den Anrufbeantworter. Er verspricht Melnik, es erneut zu versuchen und sich bei ihr zu melden. Aufgrund der bürokratischen Hürden reichen eine Stunde Zeit, ein paar Anrufe und der Google-Translator bei diesem Treffen nicht aus, um die Anliegen der Klientin zu klären. Beide vereinbaren, sich das nächste Mal in Melniks Wohnung zu treffen, um die Zählernummer abzulesen.

* Name geändert


Titelfoto:


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