Schon wieder keine Buchmesse. Immerhin liest Leipzig in diesem Jahr dennoch und die popup-Messe und andere Initiativen geben auch den angereisten Verlagen die Möglichkeit, ihre Novitäten zu zeigen. Wir haben im Vorfeld schon reingelesen: Eine ganze Woche lang, Tag für Tag gibt es an dieser Stelle ein kleines Leseangebot der Literaturredaktion.
Der Beweis des Puddings besteht darin, ihn zu essen
Eva Raisig legt mit »Seltene Erde« ein fulminantes Romandebüt vor
Therese und Lenka sind wegen der Aliens in Argentinien unterwegs. Therese ist eine unstete junge Frau auf der Suche. Lenka eine doppelt so alte, desillusionierte Astrophysikerin, die durch die Begegnung mit Therese ein fast erloschenes Feuer in sich lodern spürt. Weil alles möglicherweise mit allem zusammenhängt, starten die beiden ungleichen Frauen ihre Suche nach Spuren extraterrestrischen Lebens. Sie tragen einen Rucksack voller Fragen und unerledigter Geschichten. Die Frage, ob es anderes intelligentes Leben da draußen gibt, ist nur eines der angerissenen Themen, mit denen sich die Erzählfeuerwerkerin Eva Raisig in ihrem fulminanten Debütroman beschäftigt.
Beide Frauen kratzen verdächtig nah am Wahnsinn und verlieren sich in der Suche nach Alienspuren. Wo bitte ist die nächste Irrenanstalt? Am Schildkrötenberg kommen sie nach ein bisschen Sex kurz zur Ruhe, um im nächsten Moment das Angebot der Dorfhexe Ana anzunehmen, es doch mal mit La Madre zu versuchen. Die lokale Droge wirkt auf sie unterschiedlich. Lenka scheint sich aus dem Wirrwarr zu befreien, bei Therese hingegen wird es kompliziert. »Therese dreht den Stock zwischen den Fingern und knibbelt an den bunten Schnüren. Also, was ich … diese ganzen Wochen hier … ich frage mich, wie wir weitermachen können. Das wüsste ich gerne. Also, natürlich machen wir weiter, aber womit eigentlich genau? Ich kann nicht ewig hier … meine Eltern … also, ich wüsste gerne von der – sie schaut Ana an –, von der … äh … Madre, was das alles soll. Ob es Hoffnung gibt. Hier. Insgesamt. Versteht ihr?«
Während wir im Weltall schwebend eine kleine Auszeit auf Voyager 1 genießen dürfen, kugelt Therese im Rausch unsanft durch unverarbeitete Problemgebiete. Geht das gut aus? Vielleicht.
FRANK WILLMANN
Eva Raisig: Seltene Erde. Berlin: Matthes & Seitz 2022. 350 S., 24 €
Apfel und Armbrust
Die Geschichte des »Tell« als Roman
Viele haben sich in Theaterstücken und Verfilmungen am Stoff der Schweizer Nationallegende Wilhelm Tell versucht, doch in Romanform gab es bisher erst wenige Anläufe zu einer literarischen Annäherung. Joachim B. Schmidt ist nicht Friedrich Schiller und trotzt nun in seiner Umsetzung dem historischen Sujet mit einer modernen Sprache. Durch diesen Kunstgriff rückt das ausgehende düstere 13. Jahrhundert ganz nahe an den heutigen Leser heran. Es ist Schauplatz der Geschichte über den brutalen Umgang der habsburgischen Truppen mit der Landbevölkerung, über den Kindesmissbrauch unter dem Deckmantel der Kirche und über die unzerbrechliche Bindung einer Bauernfamilie.
Das äußere Erscheinungsbild der Kunstfigur »Tell« belässt Schmidt so klischeehaft, wie wir es von zahlreichen Illustrationen in Büchern, von Gemälden, Statuen, Filmen oder Spielkarten kennen. Doch den Heldenmythos des großen Befreiungskriegers ersetzt der Autor durch einen Mann mit einer gebrochenen Seele, in der etwas Dunkles, Trauriges wohnt. Die Last, die Tell auf seinen Schultern trägt, wiegt viel schwerer als der Apfel, den er seinem Sohn mit einer Armbrust vom Kopf schießen muss. Fast könnte man das Buch der Kategorie »Antiheimatroman« zuordnen, wären da nicht auch die positive familiäre oder nachbarschaftliche Verbundenheit und die Geborgenheit eines vertrauten Zuhauses, die eine große Rolle spielen.
Die Erzählform, die Schmidt gewählt hat, ist so simpel wie raffiniert. Aus unterschiedlichen Ich-Perspektiven von sich abwechselnden Personen wird die Geschichte vorangetrieben. Dank einer sehr klaren Textstruktur entsteht während der Romanlektüre weder Verwirrung noch Langeweile. »Tell« ist eines dieser Bücher, die man in einem Zuge auslesen möchte – in mitreißendem Sprachrhythmus, fesselnd, hart und zu Tränen rührend erzählt.
HANNA SCHNECK
Joachim B. Schmidt: Tell. Roman. Zürich: Diogenes 2022. 283 S., 22 €
Illusionsfrei
Vladimir Sorokins Blick auf Russlands Gegenwart und Vergangenheit
»Die rote Pyramide« vereint neun kürzere Erzählungen von Vladimir Sorokin aus den Jahren 2002 bis 2018. Im Westen wird er seit Jahren als Kultautor gefeiert. In seiner Heimat war er bereits zu Sowjetzeiten Dissident und ist dort als Kritiker Russlands politischer Eliten nach wie vor heftiger Kritik ausgesetzt.
Seine Erzählungen vermitteln nicht nur den Grundton einer illusionsfreien Gegenwart im postsozialistischen Russland der Putin-Ära, sondern fangen ebenso Atmosphären des vergangenen russischen Jahrhunderts ein. Dabei fällt dem Leser die Aufgabe zu, eine ungefähre historische Verortung der Handlung anhand diverser Indizien vorzunehmen. Fast folkloristisch anmutend greift Sorokin in »Das schwarze Pferd mit dem weißen Auge« typische Motive aus russischen Märchen auf und entwirft ein zunehmend unheilschwangeres Bild russischen Landlebens am Vorabend des Ausbruchs des Großen Vaterländischen Krieges. Als Meister der Groteske erfindet er hochkonzentrierte und schrill überzeichnete Bilder für gesellschaftliche Zustände und den aus diesen resultierenden persönlichen Deformationen seiner Protagonisten im Sowjetzeitalter. In der Titelerzählung »Die Rote Pyramide« etwa erfährt der junge Jura eine Vision, die ihm die Allgegenwart des gesellschaftlichen Krankens unwiederbringlich vor Augen führt und die ihn sein Leben lang nicht mehr verlassen wird. In der zeitlos anmutenden Erzählung »Der Fingernagel« treffen sich vier befreundete Ehepaare zur Abendgesellschaft. Eben waren diese noch im kultivierten Austausch miteinander. Das Fehlen von Toilettenpapier jedoch wird zum Auslöser für das Hervorbrechen angestauter und zurückgehaltener Aggressionen, die mit starker Dynamik zu Mord und Totschlag führen. Ein Blick auf Russland und seine allgegenwärtige Vergangenheit.
ANJA KLEINMICHEL
Vladimir Sorokin: Die rote Pyramide. Aus dem Russischen von Andreas Tretner und Dorothea Trottenberg. Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch 2022. 192 S., 20 €