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Kultur

Buchmesse-Special #7

Lese-Tipps aus der Literaturredaktion

  Buchmesse-Special #7 | Lese-Tipps aus der Literaturredaktion

Schon wieder keine Buchmesse. Immerhin liest Leipzig in diesem Jahr dennoch und die popup-Messe und andere Initiativen geben auch den angereisten Verlagen die Möglichkeit, ihre Novitäten zu zeigen. Wir haben im Vorfeld schon reingelesen: Eine ganze Woche lang, Tag für Tag gibt es an dieser Stelle ein kleines Leseangebot der Literaturredaktion.

Gedankengang in Venedig
Leïla Slimanis feinfühlige Introspektion eines Künstlerdaseins

»Der Duft der Blumen bei Nacht« ist eine von einer Nacht angestoßene Reflexion, die die Schriftstellerin Leïla Slimani in der Punta della Dogana verbringt, einem venezianischen Baudenkmal, das heute als Museum für moderne Kunst dient. Während des sprichwörtlichen Gedankengangs durch das Museum erfolgt während der Inspektion der Ausstellungsobjekte die Introspektion des eigenen Schreibens. Mittels zahlreicher Querverweise durch die Literaturgeschichte bezieht sich die Schriftstellerin insbesondere auf die künstlerische Einsamkeit. Geprägt durch das Aufwachsen in Marokko, reflektiert Slimani das Auflehnen gegen patriarchale Gesellschaften sowie ihren Zugang zu Kunst und Kultur. Sie beschäftigt sich zudem in sehr prägnanten und pointierten Sätzen damit, was es bedeutet, als Frau zu schreiben. Mit dem Titel spielt Slimani auf eine Installation von Hicham Berrada an, verknüpft Kindheitserinnerungen mit literarischen Verweisen und reflektiert die Beweggründe ihres künstlerischen Schaffens.

Das Werk bietet insbesondere für Leserinnen, die mit den Romanen Slimanis vertraut sind, einen faszinierenden Einblick in die Gedankenwelt der Schriftstellerin, die 2016 für ihren Roman »Nun schlaf auch du« den Prix Goncourt erhielt. Sich selbst beschreibt Slimani als Anwältin ihrer Figuren mit dem Ziel, Empathie zu fördern: »Den Gedanken zu verteidigen, dass selbst Monster, selbst Täter eine Geschichte haben.«

MICHELLE SCHREIBER

Leïla Slimani: Der Duft der Blumen bei Nacht. Aus dem Französischen von Amelie Thoma. München: Luchterhand 2022. 160 S., 20 € 

 

Endlich in Ruhe Scheitern lernen

Simone Lappert überzeugt mit Knock-out-Gedichten

Die Stärke von Simone Lapperts Poesie in »Längst Fällige Verwilderung« liegt in der Einschlägigkeit ihres unmittelbaren Bildes. Wieder und wieder variiert sie den Satz »entschuldigung, wo kann ich hier ungestört scheitern?«. Dabei klingt sie trocken und illustriert ein sperriges Gefühl in einem simplen Motiv. Diese Schärfe ist ihr Kapital: Doch nicht immer wirken die Texte so unverkopft aus dem Handgelenk geschüttelt. Manchmal scheint der Kern simpel skizziert, aber man spürt, dass sie sich in den Schattierungen verkünstelt. Lappert ist Vollblutliteratin, steckt als Präsidentin des Internationalen Lyrikfestivals offensichtlich tief in der Materie. Vielleicht verkopft es, so von Kopf bis Fuß in Literarischem zu marinieren.

Manchmal reagiert sie deshalb ihren Scharfsinn an Themen ab, in denen sie ortsfremd wirkt. Wenn sie in »Schlaflos II« von pixelnden Icons und Screens schreibt, geht sie an den Bildern vorbei wie ein Tourist durch die Ruinenstadt, betrachtet alles mit einem »Oho« und kommt über diese forsche Neugier nicht hinaus. Je weniger sie sich ein Motiv zu eigen macht, desto mehr tränkt sie es in komplizierte Wortspielerei und poetisches Handwerk. Das kann sie, sie ist ja eine kompetente Schreiberin. Aber richtig überzeugen will sie ausgerechnet immer dann, wenn sie das dichterische Dichten zurückstellt und ihre Gefühle in faustgroße Instagramabilities packt. »Sag, wie kommt man noch gleich / ohne Zukunft durch einen Winter«, sagt sie, und an einer anderen Stelle: »hasse den Mond, der wahllos jeden Scheiß versilbert«. Diese Momente biedern sich keiner wie auch immer gearteten poetischen Tradition an, sie bieten die Knock-outs, die ihren Charakter klingen lassen. Das beste Gedicht im Band möchte man sofort in zwanzig Chats kopieren: »es muss nicht immer / um den angriff gehen / sagt das krokodil / mir reicht es / zu lauern«. Es heißt »Minimalismus«.

YANNIK GÖLZ

Simone Lappert: Längst Fällige Verwilderung. Zürich: Diogenes 2022. 80 S., 20 €

 

Schau, die Liebe

Leta Semadenis zweiter Roman »Amur, großer Fluss«

Leta Semadeni spricht Rätoromanisch, schrieb Gedichte. Aber weder mit Lyrik noch mit Rätoromanisch ist Staat zu machen: Nach »Tamangur« (Rotpunktverlag, 2015) folgt nun mit »Amur, großer Fluss« (Atlantis, 2021) der zweite Roman in deutscher Sprache. Wahrscheinlich braucht es ein Verständnis der Bündner Berge, der widerständigen Arvenwälder, fern der Zeit, fern der Welt, um beim Lesen nicht übermäßig zu exotisieren.

Der detailerprobte Blick einer Illustratorin, die an einen Dokumentarfilmer denkt, der »den Worten gegenüber misstrauisch« ist, organisiert die kurzen Kapitel. Olga, nun eine alte Frau, liebte Radu, solange er da war. Die Arbeit aber, das Filmen, war ihm wichtig. So brach er eines Tages zu einer Dokumentation über die Amurtiger auf, um nicht mehr zurückzukehren. Die Erklärung dafür muss man sich zwischen den Kapiteln zusammensuchen.

Das Erzählen neigt zum Unscheinbaren, das genauso wichtig ist wie die große weite Welt, nur dass es eben wie hinter der »Passhöhe« ab von der Welt und ohne Geschichte ist. Auf einmal wirken die Details seltsam bedeutungsschwanger. Die Orte machen Atmosphäre, die Welt bleibt blass. Da spielte sich etwas im Nirgendwo zwischen Quito, Wladiwostok und New York ab. Mit einem verblüffenden Vergleich bricht die Welt dennoch in Olgas Erinnerungen ein: »Sie würde ihr Gesicht von den Sommersprossen befreien, es hell und klar machen wie das von Marilyn Monroe.«

Es stellt sich heraus, dass doch alles mit der Schweiz zu tun hat, als verstecke sich dieses Land, dessen Bewohner:innen »alle Verbrecher« seien, schon seit eh und je vor der Welt. Und natürlich gibt es »die Kühe in den Ställen ringsum«. Der Roman dagegen will bloß das Fotoalbum einer verflossenen Liebe sein. Da reicht das Schwelgen in Erinnerungen.

FABIAN SCHWITTER

Leta Semadeni: Amur, großer Fluss. Zürich: Atlantis 2022. 192 S., 22 €


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