Leipzig hat viel Altbausubstanz – aber nur ein verschwindend geringer Teil davon ist richtig alt. In seinem Buch »Vom Wandel der Leipziger Vorstädte« beschreibt Sebastian Ringel, wie sich das Gesicht der Viertel nahe der Innenstadt seit der Industrialisierung immer wieder drastisch verändert.
Was kommt Ihnen als erstes in den Sinn, wenn Sie sich Leipziger Vorstädte vorstellen? Bei einer Befragung heutiger Leipzigerinnen würden wahrscheinlich Ortschaften wie Krostitz, Schkeuditz oder Markkleeberg aufgezählt werden. Stiege man in eine Zeitmaschine und reiste ungefähr 200 Jahre zurück in der Zeit, so würden damalige Zeitgenossinnen ohne zu zögern von Petersvorstadt, Grimmaischer Vorstadt oder Hallischer Vorstadt sprechen. Leipzig, das war damals nur geringfügig mehr als die heutige Innenstadt, die Großstadtwerdung stand jedoch bereits kurz bevor. Die sollte auch für die Bebauung des städtischen Raumes tiefgreifende Veränderungen mit sich bringen.
Analog seinem 2018 erschienenen Buch »Wie Leipzigs Innenstadt verschwunden ist« (kreuzer berichtete) wählt Autor Sebastian Ringel das Jahr 1860 als Ausgangspunkt für »Vom Wandel der Leipziger Vorstädte«. In besagtem Jahr wurde mit dem Peterstor am südlichen Ende der Petersstraße das letzte verbliebene Haupttor der Messestadt abgebrochen, womit auch symbolisch der räumlichen Expansion Weg bereitet wurde. Daran anschließend folgen sieben Kapitel, angelehnt an gängige historische Phasen wie Kaiserreich, DDR-Zeit und Nachwendezeit, die jeweils einen breiten Fundus an Bausubstanz vorstellen, die während dieser Phase verloren gegangen sind. Dabei bewegen wir uns in einem geografischen Raum, der in etwa dem heutigen Stadtbezirk Mitte gleichkommt und noch bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts amtlich als »Alt-Leipzig« bezeichnet wurde.
Das besondere Verdienst Ringels besteht darin, die Schicksale einzelner Bauwerke nicht nur durch üppige Einleitungen in einen größeren Kontext zu setzen, sondern mittels Vorher-Nachher-Fotos und Kartenausschnitten mehr ein Nachschlagewerk denn ein Lesebuch geschaffen zu haben, zu dem zu greifen sich immer wieder lohnt. Positiv zu erwähnen ist auch, dass das Buch am Ende über ein klassisches Register verfügt – dem Vorgängerband fehlte dieses noch schmerzlich.
Beim Durchstöbern stellt sich schnell heraus, dass es nie so etwas wie eine fertige Stadt gegeben hat. Immer wieder veränderten sich Ansprüche oder ergaben sich neue technische Möglichkeiten, die regelmäßig in einer Überformung des Alten mündeten. Im großen Stil wurde auch der Natur Raum entrissen, um breite Bevölkerungsschichten mit Wohnraum zu versorgen. So befindet sich zum Beispiel das Musikviertel auf Flächen, die noch bis weit nach Mitte des 19. Jahrhunderts durch sumpfige Seen- und Auenlandschaften geprägt waren und trockengelegt wurden.
Deutlich wird auch, dass es keinesfalls der Krieg war, der für den Verlust des größten Teils der alten Bausubstanz verantwortlich war. Zweifelsohne zerstörten die Luftangriffe der Jahre 1943-45 einen beträchtlichen Teil der Pleißestadt, doch fand die entscheidendere Überformung älterer Strukturen bereits in den Jahrzehnten zuvor und teilweise danach statt. Der Mythos, wonach der Krieg das alte Leipzig auslöschte, hält einer genaueren Überprüfung daher nicht stand.
So kommt es, dass man für die Suche nach wirklich alter, das heißt vorindustrieller Bausubstanz in den alten Vorstädten viel Geduld braucht. Selbst bei wohlwollender Zählweise lassen sich lediglich vier Bauwerke nachweisen, die die Zeiten überdauerten.
Sebastian Ringel: Vom Wandel der Leipziger Vorstädte. Leipzig: Edition Überland 2022. 400 S, 28. €.