An dieser Stelle veröffentlicht kreuzer Briefe von Autorinnen aus der Ukraine. Der Lyriker Ostap Slyvynsky schreibt aus Lviv über die Unmöglichkeit, das Grauen in Worte zu fassen.
Brief von Ostap Slyvynsky
Ostap Slyvynsky (geb. 1978) lebt als Lyriker, Übersetzer und Hochschullehrer in Lviv. 2017 erschien unter dem Titel »Im fünften Jahrtausend erwachen« eine Auswahl seiner Gedichte in deutscher Übersetzung (Edition fotoTAPETA).
»Guten Tag.
Ich schreibe Ihnen am 38. Kriegstag. Eine Freundin von mir, eine bosnische Schriftstellerin, die die Belagerung von Sarajevo miterlebt hat, schrieb mir kurz nach dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine: Nach einem Monat beginnst du, dich an den Krieg zu gewöhnen. Zuerst erscheint dir alles irreal, unmöglich, aber schon bald bist du nicht mehr in kalten Schweiß gebadet, wenn du am Morgen aufwachst, sondern es ist wie immer. Der Mensch gewöhnt sich selbst ans Allerschlimmste – darin liegen seine Superkraft wie sein Unglück. Heute, am 38. Tag des Krieges, hat bei mir noch immer keine Gewöhnung eingesetzt.
Hinter jeder Wendung in diesem Krieg erscheint uns das Böse in einer neuen Vitrine, und es ist so absurd und unvorstellbar, dass die Empathiekanäle schließlich dicht sind – als hätte das Gesehene sie verstopft – und irgendein Teil der Psyche einen falschen Code sendet. Und deshalb stößt du dann mit der Nase immer wieder an irgendeine dämliche Frage, wie ein kaputter Saugroboter an ein und dieselbe Ecke im Zimmer. Am Rand einer Straße bei Kyjiw wurden heute die Leichen von Zivilisten gefunden, ein Mann und einige nackte Frauen. Sie lagen auf Reifen, die russischen Soldaten hatten offensichtlich geplant, sie zu verbrennen. Was hat sie abgehalten? Vielleicht schafften sie es nicht mehr, irgendwo Benzin abzupumpen? Vielleicht waren die Streichhölzer feucht oder das Feuerzeug leer? Ich kreise wie ein Paranoiker um diese eine Frage, denn ich spüre: Wenn ich sie nur kurz aus den Augen lasse, stürze ich in den Abgrund.
Manchmal kommt mir dieser Abgrund trotzdem gefährlich nahe, dann enden die Gedanken und die Wörter. Der Abgrund lässt sich nicht erzählen. Das ist schlecht. Extreme Gewalt kann unbestraft bleiben, weil sie die Wörter verschlingt, wie ein schwarzes Loch Licht in sich aufsaugt. Denn nur, was berichtet wird, kann einmal vor Gericht gebracht werden. Deswegen werkeln wir allen Widrigkeiten zum Trotz an einer Erzählung, einer ganz einfachen, aus Seilen und Brettern, »Jas« und »Neins«, aus lauter Antonymen, dafür ohne Attribute, Schattierungen und Vergleiche. Nur so ist es hier möglich.
Die Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk sagte in einem Gespräch über den russischen Krieg gegen die Ukraine kürzlich, dass dabei die Sprache selbst zurückgedrängt wird, in eine Art Archaik stürzt. Aber was soll’s, schließlich ist Krieg eine archaische Sache. Er zieht uns die Haut ab, dass nichts Relatives mehr bleibt, nur das bloße Skelett, gebaut aus simplen Gegensätzen: Kraft und Schwäche, Macht und Unterwerfung, Männliches und Weibliches. Nichts dazwischen. Eine solche Sprache lässt keine Diskussion zu, sie ist kompromisslos. Ja, es ist nicht leicht, mit uns Menschen des Krieges – Soldaten wie Zivilisten – zu sprechen. Wir sind nervös und auffahrend, wir sagen den Leuten unangenehme Dinge. Sogar unsere Liebe und Dankbarkeit sind schwer erträglich, denn auch sie sind kompromisslos.
Manchmal weiß ich nicht mehr, wie spät es ist. Welchen Monat wir haben, welches Jahr. Im Krieg passieren merkwürdige Dinge mit der Zeit, das sagen alle. In den ersten Wochen war sie wie paralysiert, alles wirkte wie ein einziger zusammenhängender Tag, in der Unentschiedenheit hängend, jeder Entwicklung beraubt und keinerlei Prognose unterliegend. Jetzt bewegt sich die Zeit in Richtung einer Vergangenheit, vor der sich die Menschen normalerweise fürchten. Ja, wir haben das alles früher schon gesehen, auf Schwarzweiß- und Farbbildern, später dann in verwackelten Heimvideos: Die Straßen der Ghettos in Lodz und Warschau, die Lager in Sabra und Schatila, Srebrenica, Ruanda. Zu dieser schrecklichen Reihe werden sich künftig Ortsnamen gesellen, bei denen man einmal an die Frische von Kiefernwäldern dachte, an Picknicks mit der Familie, an die Stille von Sanatorien und die blauen Oberflächen von Flüssen und Seen: Irpin, Butscha, Worsel. Von heute an werden sie zu Synonymen für Leid und Barbarei.
Freunde und Kollegen aus Ländern, in denen kein Krieg herrscht, fragen, wie wir den Angreifern verzeihen wollen, wie wir unser weiteres Zusammenleben planen, schließlich wird Russland ja unser Nachbar bleiben. Ganz am Anfang des Krieges, bevor massenhaft Zivilisten getötet, Schulen, Kranken- und Wohnhäuser bombardiert wurden, also als der Krieg noch ein Krieg war und nicht irgendwas anderes, da fand ich, wenn ich mir Mühe gab, eine Antwort auf diese Frage. Jetzt geht das nicht mehr. Ich weiß nicht, wie man mit einer Gesellschaft umgehen soll, die zu 80 Prozent einen Präsidenten unterstützt, der am Nachbarvolk einen Genozid verüben lässt. Der so genannte »Friede« wird uns auch nicht retten. Die Russen benutzen dieses Wort als Tarnung, es ist ihr trojanisches Pferd, das in Wirklichkeit bloß Toleranz denen gegenüber meint, die Russlands Vorherrschaft anerkennen. Deshalb gibt es jetzt und künftig keinen »Frieden« zwischen uns. Und eigentlich hat es ihn auch nie gegeben, was wir eine Weile lang leichtfertig vergessen haben. Wir müssen das Wort »Friede« aus unseren Wörterbüchern tilgen, wie schwer uns das auch fallen mag.
Das Beste, was zwischen uns passieren kann, ist ein schweigendes Nebeneinander mit zusammengebissenen Zähnen; eine dauerhafte Ruhe vor dem Sturm, bis der nächste russische Autokrat auf die Idee kommt, sich die Dominanz über die Ukraine zu sichern, oder über irgendein anderes Land, das plötzlich zur »strategischen Interessenssphäre« erklärt wird. Das hat es schon oft gegeben und wird es wieder geben. Wenn wir es nicht schaffen, dem aggressiven System Russlands, das Bodenschätze aus seinen Eingeweiden hervorholt und zu Angriffswaffen umschmilzt, das Rückgrat zu brechen. Jetzt kann man das schaffen. Vielleicht nur jetzt und nur hier. In dieser schrecklichen, in dieser historischen Zeit.«
Aus dem Ukrainischen von Jakob Walosczyk
»Der Krieg ändert das Vokabular. Er reaktiviert Wörter, die man bis dato nur aus historischen Romanen kannte. Vielleicht weil Krieg immer auch die Geschichte reaktiviert. Man kann sie sehen, schmecken, riechen. Meist riecht sie verbrannt«, schrieb der in Charkiw lebende Serhij Zhadan in seinem Band »Warum ich nicht im Netz bin« – es war 2014. Der Krieg fing an.
Der Krieg reaktiviert die Geschichte – auch ich habe schon an 1938/39 gedacht, an Sudetenland und Polen, an die Panzer in Prag 1968, an Jugoslawien... Seit dem 24.Februar führt Russland Krieg gegen die Ukraine. Einen zerstörerischen Krieg, der nicht zu begreifen ist. Einen Krieg, der – wie Zhadan schreibt –, auch die Farben verändert: »Für viele Menschen verschwinden ein für alle Mal die Schattierungen, plötzlich ist die Welt schwarz-weiß, fest umrissen, streng konturiert. Und auch die Sprache ist für viele plötzlich schwarz-weiß.« Das Schreiben verändert der Krieg auch. Relevant bleibt es nach wie vor, oder gar notwendig, so wie die Poesie als solche lebensnotwendig bleibt.
Wir haben Autorinnen aus der Ukraine gebeten, ihre Gedanken mit uns zu teilen. Einmal wöchentlich werden an dieser Stelle Briefe aus der Ukraine erscheinen. Ein besonderer Dank gebührt Jakob Walosczyk, vor kurzem noch DAAD-Lektor in Odessa, Übersetzer aus dem Polnischen, Ukrainischen und Russischen, der die Texte unserer Kolleginnen ins Deutsche überträgt.
Martina Lisa, kreuzer -Literaturredakteurin