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Kultur

Farben der Erinnerung

Film »Die Odyssee« entstand im Tapetenwerk

  Farben der Erinnerung | Film »Die Odyssee« entstand im Tapetenwerk

Im Tapetenwerk entstand über 18 Monate hinweg die berührende Geschichte einer Flucht in handgemalten Ölgemälden 

Ein Buch öffnet sich und die darin enthaltenen Geschichten werden lebendig. Es sind die gezeichneten Erinnerungen von Florences’ Mutter. Mireille Glodeck Miailhe floh mit ihrer Mutter und ihren neun Geschwistern vor den Pogromen in Odessa im noch jungen 20. Jahrhundert. Als Florence Miailhe hundert Jahre später die Bilder sieht, die ihr Ehemann, ein Fotograf für die renommierte Agentur Magnum, von der Insel Lampedusa zurückbrachte, verspürt sie den Drang, eine Geschichte zu erzählen. 

Es ist die Geschichte der jungen Kyona, die wie Florences’ Mutter malte, seit sie ein Kind war. Gemeinsam mit ihrer Familie muss sie ihre Heimat verlassen. Faschistische Truppen plündern die Häuser in ihrem Dorf und drohen, sie alle zu töten, wenn sie zurückkehren. Die Ströme der Fliehenden nehmen kein Ende, in dem Chaos verlieren Kyona und ihr kleiner Bruder Adriel die Eltern. Alleine machen sie sich auf den Weg zur Grenze, leben auf der Straße, in einem Zirkus, bei einer reichen, aber herzlosen Familie. Das Ziel ist, irgendwie zu überleben. 

Es ist eine persönlich gefärbte, universelle Geschichte von Flucht an einem bewusst vage gehaltenen Ort, die Florence Miailhe und ihre Ko-Autorin, die französische Schriftstellerin Marie Desplechin, hier erzählen. Eine Geschichte, wie sie sich irgendwo jeden Tag abspielen könnte. Einzigartig ist jedoch, wie sie erzählt wird. Jedes einzelne Bild der Animation ist handgemalt in Öl auf Glas. Zehn Jahre arbeitete sie an »Die Odyssee« (frz. »La Traversée«) von der Finanzierung bis zur Umsetzung. Ein Mammutprojekt, das sie nicht alleine stemmen musste. Drei Teams arbeiteten gleichzeitig in Prag, Toulouse und Leipzig an der Animation ihrer Kunst und gaben ihre eigene Persönlichkeit dem Projekt. 

Im Tapetenwerk
Foto: Martina Goyert

Im Tapetenwerk in Lindenau befand sich eines der Ateliers, mit Molton und dicken schwarzen Vorhängen verhängt, im Sommer heiß und stets stockdunkel. Hier hingen Urte Zintler und Aline Helmcke anderthalb Jahre über dem Leuchttisch. »Das ist schon krass, im Dunkeln zu arbeiten«, erinnert sich Zintler. »Aber es fördert die Konzentration. Man hat keine Ablenkung.« Von der Regisseurin erhielten sie ein abgefilmtes Storyboard, das die Szenenlänge vorgab. Außerdem Vorgaben, wie die Figuren aussehen, ihre Größe und die Hintergründe. »Das haben wir dann aufs Glas gebracht und vor der Kamera die Bildkomposition erstellt.« 

Eine ungewöhnliche Arbeit für die Trickfilmerin, die es sonst gewohnt ist, mit dem Zeichenstift zu agieren. »Klassische Animation hat einen Anfang und ein Ende und man arbeitet sich durch die Mitte. Was wir hier hatten, war geradeaus, ein Bild nach dem anderen, analoge Animation wie im Puppentrick. Das ist sehr spannend, weil man bis zum Schluss nicht weiß, ob es klappt, was man sich ausdenkt. Und es ist Wahnsinn, wenn es klappt.« 

Für die Leipzigerin war es aber eine seltene Gelegenheit. »Es gibt sonst ja praktisch niemanden, der so etwas macht, in dieser Form eines Kinofilms. Das heißt, man muss gleich hochwertige Animationen liefern in einer Technik, mit der man noch nie gearbeitet hat. Für mich war das eine erfreuliche Herausforderung.« Um ein Gefühl für die Geschichte zu bekommen und wie sie sich Florence Miailhe vorstellte, war es wichtig, ihr zuvor bei der Arbeit zuzusehen, erklärt Zintler. Der Stil des Films ist am Ende nie einhundertprozentig gleich. Jeder und jede der beteiligten Künstlerinnen hat eine eigene Handschrift. Das macht den Film visuell auch so reizvoll. Die Malerei trägt, man vergisst die Technik und taucht ein. 

Leuchttisch
Urte Zintler lässt die Hintergründe, Figuren und Animationen auf dem Leuchttisch zu einem Film verschmelzen. Foto: Urte Zintler

Die Dresdner Animationsschmide Balance Film fungierte als Koproduzent, Arte stellte einen Großteil der Finanzierung. Urte Zintler schätzt sich glücklich, Teil des künstlerischen Prozesses gewesen zu sein. »Es ist toll, an so einem Projekt zu arbeiten. Normalerweise macht man in dieser Form meist unterfinanzierte Kurzfilme, in die man viel reinsteckt. Die Erfahrung einer ganz normalen Kinoproduktion in einer so ungewöhnlichen Technik ist einmalig.« Beim wichtigsten Animationsfilmfestival in Annecy gab es dafür eine lobende Erwähnung der Jury und auch beim Dok Leipzig im Oktober wurde der Film geehrt.

»Die Odyssee«: 24.4., 15 Uhr, Passage Kinos, Premiere in Anwesenheit von Gästen, ab 28.4., Passage Kinos


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