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Stadtleben

»Hier hilft jeder jedem«

Der Leiter der Intensivstation im Krankenhaus in Kyiv berichtet von seinem Alltag

  »Hier hilft jeder jedem« | Der Leiter der Intensivstation im Krankenhaus in Kyiv berichtet von seinem Alltag

Professor Dziuba Dmytro ist an der Shupyk National University in Kyiv* normalerweise für die Weiterbildung von Ärzten zuständig. Zu Kriegsbeginn zog er mit seiner Frau in das Kyiv Regional Krankenhaus, um Patientinnen zu behandeln. Er lebt noch immer im Krankenhaus und leitet die Intensivstation. Wir sprachen dort mit ihm.

kreuzer: Was machen Sie in Ihrem normalen Leben?

Professor Dziuba Dmytro: Die Shupyk National University ist ein Hochschul-, Methoden- und Forschungszentrum. Dort bin ich für die Weiterbildung von Ärzten zuständig, halte Vorträge und bin zu Gast bei Konferenzen. Ansonsten habe ich eine Frau und eine Wohnung in Kyiv*.

Was geschah zu Kriegsbeginn?

Ich packte meine Sachen und ging direkt ins Krankenhaus, um zu arbeiten. Die ersten 40 Tage haben wir hier gelebt. Tag und Nacht. Wir haben hier gekocht und uns beim Bombenalarm im Keller versteckt. Es gab drei oder vier Bombeneinschläge in der direkten Umgebung. Vom Dach des Krankenhauses konnten wir Kampfhandlungen beobachten.

Wie lief das in der heißen Phase?

Wir hatten viele Patienten mit Traumata. Das bedeutet bei uns Medizinern, Verletzungen des äußeren Gewebes durch Fremdeinwirkung. Wir haben Opfer von Explosionen, Verbrennungen oder direkten Verletzungen versorgt. Ihr habt die Patientinnen auf der Intensivstation mit eigenen Augen gesehen. Das waren keine Kämpferinnen.
Zu den Traumapatienten kamen die Krebs- und Dialysepatienten, die von ihrer bisherigen Behandlung abgeschnitten wurden. Sie mussten teils tagelang bei schlechten Lebensbedingungen in den Kellern verharren. Besonders berührt hat mich ein Mann, den eine Hilfsorganisation in einem Wald bei Butcha aufgefunden hat. Er hatte eine verletze Hand und ein verletztes Bein. Er hat uns erzählt, wie er mit 50 bis 60 Leuten im Wald – Kinder, Frauen, Großväter, Großmütter – erschossen werden sollte. Sie haben einfach alle umgebracht, seine Frau und seine beiden Söhne vor seinen Augen getötet.
Insgesamt kamen aus Butcha hier nur 15 bis 20 Patienten an – von denen hat nur rund die Hälfte überlebt.

Wie haben Sie hier im Krankenhaus gelebt?

Wir sitzen gerade in meinem Büro. Dort auf dem Sofa schlafe ich. Im Erdgeschoss haben wir gekocht. Meine Frau arbeitet für ein Pharmaunternehmen. Wir beschlossen, zusammen zu bleiben und sie zog auch hier ein. Im Moment ist sie auf der Arbeit, sonst könntet ihr auch mit ihr sprechen.

Wie sieht es jetzt aus, wo sich die Situation in Kyiv* beruhigt hat?

Das Krankenhaus läuft wieder auf Normalbetrieb. Ich lebe aber immer noch hier. Gegenüber meinen Intensivpatienten hätte ich ein schlechtes Gewissen. Aber ich möchte hier nicht nur schlimme Geschichten erzählen. Es gibt auch schöne Dinge.

Was meinen Sie?

In der zweiten Woche des Krieges rief eine befreundete Professorin an. Sie meinte, dass »Kinder gerne helfen würden«. Am nächsten Tag standen sie da. Es stellte sich heraus, dass diese »Kinder« Friseure eines hochpreisigen Salons in Kyiv* waren. Wir bekamen alle einen tollen Haarschnitt. Sie schnitten hier den ganzen Tag kostenlos die Haare von allen möglichen Menschen. Das ist eines von vielen Beispielen. Hier hilft jeder jedem. Wohnungen, Autos, Fernseher – Geld zählt nicht mehr. Für das echte Leben braucht man wenig. Ich nutze ein Paar Schuhe, wenige Hosen und gehe manchmal nach Hause, um die Pflanzen zu gießen. Ich brauche meine Hände, meinen Kopf und Was zum anzuziehen.


Nicht so bescheiden. Was können Sie gebrauchen?

Ich halte es für wichtig, dass die zivilen Organisationen unterstützt werden. Grade in den Gebieten, die angegriffen werden, kann jede Hilfe gebraucht werden. Natürlich werden hier auch spezielle Medikamente oder Equipment für die Dialyse gebraucht. Inzwischen gibt es aber Netzwerke – die reichen bis zu euch in die Asklepios Klinik nach Weißenfels.

*In der Schreibweise der Stadt Kyiv folgen wir dem Wunsch des Autoren.

Marco Brás dos Santos ist gerade als freier Journalist in Leipzigs Partnerstadt Kyiv*. Er spricht mit Menschen vor Ort und sammelt Geschichten aus ihrem Kriegsalltag. 

Titelbild: Marco Brás dos Santos.


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