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»Vielleicht ist das in Deutschland einfach so«

Geflüchtete Schwestern werden nach Flucht aus der Ukraine ausgebeutet

  »Vielleicht ist das in Deutschland einfach so« | Geflüchtete Schwestern werden nach Flucht aus der Ukraine ausgebeutet

Zwei ukrainische Schwestern landen auf der Flucht vor dem Krieg bei einer Gastfamilie in Sachsen-Anhalt – und werden dort schikaniert. In der Mai-Ausgabe des kreuzer erzählt kreuzer-Autorin Charis Mündlein ihre Geschichte.

Dann eben Wartebereich Nummer 10. Eigentlich wollten Olja* und Tanja* in Polen bleiben, denn die polnische Sprache ist für die beiden Schwestern aus der Nähe von Kiew* einfacher zu lernen. In Polen befinden sich zu dem Zeitpunkt aber schon sehr viele Geflüchtete aus der Ukraine, weshalb sich die beiden für ein anderes Land entscheiden sollen. Die Wartebereiche für die möglichen Aufnahmeländer sind durchnummeriert, viele Geflüchtete in dem Ankommenszentrum entscheiden sich für Litauen. Den Schwestern Anfang 30 wird nahegelegt, zu versuchen, mit den beiden Kindern eine Mitfahrgelegenheit nach Deutschland zu bekommen.

Im Bereich Nummer 10 wurden aus Platzgründen die Feldbetten aneinandergeschoben. Um die 200 Menschen warten hier darauf, weiterreisen zu können, einige davon seit mehreren Tagen. Olja, Tanja und Tanjas 8- und 10-jährige Kinder haben Glück: Bereits nach zwei Stunden wird die Familie aufgerufen – es gibt ein Auto mit Freiwilligen, die sie noch heute Abend nach Leipzig bringen können. Leipzig passt gut in die Route der Familie, denn das nächste Zwischenziel soll eine Kleinstadt vor Magdeburg sein.

Hier wollen sie für die nächste Zeit unterkommen, Tanja hat in Polen bereits mit dem zukünftigen Gastgeber telefoniert, der auch Ukrainisch spricht. Über ein Wohnvermittlungsportal konnten die Schwestern schnell den Kontakt herstellen. Die Website wurde den Schwestern in Kiew von der Stadt empfohlen, und auch allgemein in der Ukraine sei von offizieller Seite diese Plattform empfohlen worden. So steigt die Familie am späten Abend ohne große Sorgen in das Leipziger Auto. Dabei läuft im Ankommenszentrum alles sehr koordiniert ab: Die Leipziger Freiwilligen tragen wie alle freiwilligen Fahrenden Armbänder, alle Geflüchteten und Freiwilligen wurden direkt bei der Ankunft registriert. Die Polizei kontrolliert den Bereich, so dass nur registrierte Personen und Autos den Bereich betreten und verlassen können. Die Gruppe fährt die Nacht durch und kommt am nächsten Vormittag am Leipziger Hauptbahnhof an. Hier steigt die Familie in den Zug nach Magdeburg.

Ankunft bei der vermittelten Gastfamilie in Sachsen-Anhalt

Es sind drei Tage vergangen, seitdem Olja, Tanja und die beiden Kinder am Mittag des 8. März aus dem Kiewer Vorort Irpin aufgebrochen sind. Nach der Zugfahrt zur polnischen Grenze, dem Fußmarsch über die Grenze, der Busfahrt zum Ankommenszentrum und Autoreise nach Deutschland kommen die vier am Abend des dritten Fluchttages bei ihrer neuen Zwischenstation an: Am Rande einer Kleinstadt bei Magdeburg stehen sie vor dem Haus ihres Gastgebers. Dieses ist von Bahngleisen und verfallenen, verlassenen Häusern umgeben. Es gibt keine Nachbarschaft, die ersten bewohnten Häuser sind nur in der Ferne zu erkennen. Der erste Anblick des abgeschotteten Hauses ist für Olja »direkt angsteinflößend, furchtbar«. Im Telefongespräch in Polen habe der Gastgeber bereits erwähnt, dass vor Ort eine Art Renovierung sei, am Telefon habe das aber nicht so schlimm geklungen, erzählt Olja: »Als ich dann ankam, haben wir gesehen, dass es sehr viel schlimmer ist als eine Renovierung. Es sah aus wie eine Ruine, alles komplett zerfallen. Es war eine Baustelle.« Die Schwestern sind verängstigt von dem Haus, fühlen sich am ersten Abend aber gut und herzlich aufgenommen. Die Gastgeberfamilie, bestehend aus Eltern und einer jungen Tochter, essen mit den neuen Gästen und spielen mit Tanjas Kindern. Abends wird lange über den Krieg gesprochen, die Gastgeber zeigen sich sehr mitfühlend mit den geflüchteten Schwestern.

In den ersten Tagen wohnt die geflüchtete Familie mit der Gastgeberfamilie im Haus, dessen Zustand zwar erschreckend für sie ist, trotzdem sind sie erleichtert, irgendwo untergekommen zu sein. »Wir waren froh, mal wo zu sein, wo nicht die ganze Zeit Bomben und Schüsse fallen.« Im Gespräch mit dem kreuzer zeigt Olja Fotos vom Haus in der Ukraine, in dem ihre Wohnung war. Dieses wurde auch von Bomben getroffen: Eine Fassade des hohen gelben Hauses steht noch, ist aber bereits gefährlich geneigt, Olja zeigt auf den zerstörten Balkon. Auf der Rückseite des Hauses soll es nichts mehr geben. In ihrer Wohnung habe Olja erst kürzlich renoviert.

Vom Haus der Gastgeber kann Olja keine Fotos zeigen, Aufnahmen zu machen, habe sie sich nicht getraut. Nach ihrer Beschreibung sind Erd- und Obergeschoss aber eine »furchtbare Baustelle«. Eine Treppe ohne Geländer führt in den zweiten Stock, der bereits bewohnt wird. Auf der linken Seite wohnt die Gastgeberfamilie, auf der rechten Seite schläft Oljas Familie. Olja hat ein eigenes kleines Zimmer, alle schlafen in richtigen Betten, mit Bettlaken und warmen Decken. Eine Zentralheizung gibt es nicht, die Schwestern können aber einen kleinen Heizlüfter nutzen. Trotzdem ist es zwischen den Betonwänden sehr kalt. Da es noch keine richtigen sanitären Anlagen gibt, müssen alle aus dem zweiten Stock über ein Gerüst hinaus auf den Dachboden klettern. Hier ist es windig und kalt, ein Eimer dient als Toilette.

Aus Gastfreundschaft wird Drill und Schikane

Die Gastgeberfamilie ist immer zu Hause. Nach drei Tagen bittet sie die ukrainischen Gäste, im Haushalt zu helfen. Das ist für Olja aber selbstverständlich, wenn sie zu Gast ist. »Es war die ganze Zeit die Rede davon, dass noch zehn bis fünfzehn weitere Personen kommen sollen«, erzählt sie. Am Telefon hört sie den Gastgeber mit einer Person sprechen, die anreisen soll. Auch hier wird wieder auf die Renovierung hingewiesen. Olja und Tanja bereiten die Ankunft vor, backen Pfannkuchen, beziehen Betten. Abends kommt Marta*, eine junge Mutter mit zwei Kindern im Kindergartenalter, an. Die drei Frauen verstehen sich direkt gut, sie teilen das gleiche Schicksal. Auch Marta ist bei der Ankunft schockiert über den Zustand des Hauses. Die 23-Jährige hat die letzten Tage in Berlin verbracht und verzweifelt nach einer Unterkunft gesucht. Über das gleiche Wohnungsportal wie Olja ist sie dann auf 
den Gastgeber bei Magdeburg gestoßen. Auf Anfrage des kreuzer gibt es zum Redaktionsschluss keine Aussage zu Sicherheitsmechanismen und Verifizierungsstufen seitens der Plattformbetreiber.

Die Schwestern sind noch sehr emotional und traumatisiert von der Flucht, als sich nach vier Tagen der Ton des Gastgebers verhärtet: Aus Bitten werden Forderungen. Die Gäste bekommen die Aufgabe, die Treppe im Haus zu putzen. Wegen der Baustelle ist dort viel Staub und Schutt. »Anfangs hieß es, dass wir zwei- bis dreimal am Tag diese Treppe putzen sollen. Irgendwann wurde es zu zehnmal am Tag. Der Gastgeber meinte, es seien unsere Kinder, die hier alles dreckig machen.« Von da an werden die Ukrainerinnen zwischen sechs und sieben Uhr morgens geweckt. Der Gastgeber klopft an die Zimmer und schreit, dass sie aufstehen sollen, dass jetzt gearbeitet werde. Dann gibt es kurz Kaffee und Tee, anschließend geht es los. Die Aufgaben werden aufgeteilt: »Marta hat in der Küche von morgens bis abends gekocht, ich habe eher geputzt und meine Schwester hat im Garten gearbeitet. Bis spätabends. Mittags haben wir zusammen gegessen, das war die einzige Pause.« Der Gastgeber arbeitet auch im Garten, seine Frau ist meist im Haushalt beschäftigt oder betreut die Kinder.

Die Arbeiten auf dem Grundstück sind rustikal: Da es in der Küche kein fließendes Wasser gibt, muss aus einem Brunnen kaltes Wasser geholt werden, um damit zu kochen. Der Gastgeber verteilt stetig Aufgaben, »auch wenn die sinnlos waren, damit wir nicht rumsitzen.« So soll neben dem Putzen der Treppe das Kinderzimmer mehrmals am Tag staubgesaugt werden. Die Frauen verstecken sich, wenn sie eine Pause machen und rauchen. Denn sobald der Gastgeber sie »erwischt«, hält er ihnen einen Vortrag.

Dabei nutzt er immer die gleichen Argumente. Er begründet die Arbeit damit, dass sie hier kostenlos essen und leben, wenn die Frauen also beim Gemüseanbau helfen, können sie das Gemüse später auch kostenlos essen. Laut Olja sagt er, »dass wir hier nicht im Urlaub seien, sondern zum Arbeiten. Dass wir uns abschminken können, uns zu entspannen.« Auch als die Frauen ihm erklären, dass sie gar nicht vorhaben, lange zu bleiben, und vielleicht bald nach Leipzig fahren, ändert sich die Argumentation nicht.

Olja beschreibt den Gastgeber als angsteinflößend und unberechenbar. Einerseits ist er nett zu den Kindern, spielt mit ihnen, trinkt manchmal mit Olja einen Kaffee. Andererseits sieht sie etwas Furchteinflößendes in seinen Augen und ist deshalb angespannt: »Er hat zwei verschiedene Charakterzüge. Er ist immer sehr nett und zuvorkommend, und dann kann es passieren, dass er plötzlich sehr wütend wird und explodiert – nicht nur uns, sondern auch seiner Familie gegenüber. Die hat auch sehr darunter gelitten.« So habe der ebenfalls aus der Ukraine stammende Gastgeber seiner aus Russland kommenden Frau verboten, Russisch zu sprechen. Sie soll Ukrainisch für ihn gelernt haben. Sein Russenhass wird durch den Krieg natürlich befeuert, auch die Ukrainerinnen dürfen im Haus kein russisches Wort nutzen.

Olja und Tanja fühlen sich nicht wohl mit diesen Umständen, machen aus Angst aber mit: »Wir haben gedacht, vielleicht ist das in Deutschland einfach so, vielleicht ist das bei allen anderen Geflüchteten auch so.« Marta jedoch widersetzt sich von Anfang an den Anordnungen des Gastgebers, Olja hört die beiden einmal im Nachbarzimmer laut streiten. Zwischen Marta und dem Gastgeber herrscht ein stetiger Konflikt. Als sich Marta im Supermarkt Zigaretten kaufen will, fragt der Gastgeber, was das solle – Zigaretten kaufen, aber kostenlos sein Essen zu essen. Von ihrem letzten Geld soll sie Essen für die Familie kaufen. Marta unterstützt die beiden Schwestern in ihrer Unsicherheit und dem Gedanken, dass die Situation vor Ort nicht okay ist. Sie selbst kommt aus einem weniger betroffenen Gebiet der Ukraine und sagt von Beginn an, sie sei nicht geflüchtet, um sich ausbeuten zu lassen. »Ich bedanke mich auf jeden Fall bei Marta, dass sie so prinzipientreu ist«, merkt Olja in unserem Gespräch an. Die Frauen planen, bald abzureisen, haben aber Angst davor, festgehalten zu werden.

Neuanfang in Leipzig

Inzwischen wohnen Olja, Tanja und die Kinder in Leipzig. Tanja arbeitet wieder als Luftfahrtingenieurin bei dem Unternehmen, für das sie in der Ukraine gearbeitet hat. Die deutschen Filialen haben die ukrainischen Mitarbeiterinnen übernommen. Die Familie wohnt aktuell in einem Hotel, die Kosten werden von dem Unternehmen, bei dem Tanja arbeitet, übernommen. Bald müssen sie aber eine Wohnung organisiert haben. Jetzt können sie spazieren gehen, der Familie gefällt Leipzig. Während unseres Gesprächs wird Olja von Tanja angerufen, die die beiden für einen kostenlosen Deutschkurs anmelden will. Olja fühlt sich nicht mehr beobachtet, kann so lange schlafen, wie sie will, und hat wieder mehr Lebenskomfort. Die Schwestern sind glücklich darüber, wieder Zugang zu richtigen Sanitäranlagen zu haben, warm duschen zu können. Im Haus bei Magdeburg hatten die beiden den Gastgeber mehrfach nach einer Möglichkeit zum Duschen gefragt, sie wurden aber immer vertröstet. Die Familie des Gastgebers konnte sich sehr wohl jeden Tag Wasser aufwärmen und in einer selbst gebauten Dusche waschen. »Nach ein paar Tagen haben wir eine Plastikwanne mit kaltem Wasser bekommen, um die Kinder zu baden, aber wir wollten nicht vier Kinder in einer kleinen Wanne baden.«

In der Schlange vorm Rathaus tauschen sich die beiden mit anderen Geflüchteten aus, die in Wohnangeboten leben. Bei allen sei die Situation anders gewesen, alle würden kostenlos leben. Die Familie kann sich nun ausruhen, Olja ist aber noch besorgt. Die Gastgeber in Sachsen-Anhalt haben vor ihrer Abfahrt ihre Reisepässe kopiert, um sich bei der Stadt Nebenkosten erstatten zu lassen. Obwohl die Frauen außer dem Strom für Glühbirne und Heizlüfter keine Nebenkosten verbraucht haben. Die Schwestern haben nun Angst, dass es noch ein Nachspiel geben könnte, dass von der Familie noch Anschuldigungen kommen.

Während der Zeit bei der Gastfamilie steht Olja noch in Kontakt mit den Leipziger Freiwilligen, die sie nach Deutschland brachten und nun planen, sie abzuholen. Auch Marta ist mit Xenia, der freiwilligen Helferin, die sie am Berliner Busbahnhof kennengelernt hat, in Kontakt geblieben. Xenia ist sehr bemüht darum, dass die junge Mutter sicher unterkommt, und weiß nicht, wie sie die Erzählungen der Ukrainerinnen einordnen soll. Und gegen welches Gesetz hier verstoßen wird. Beweise hat sie auch keine. Die 22-Jährige macht sich Sorgen, insbesondere, als der Gastgeber sie anruft und sie fragt, ob sie noch zehn bis fünfzehn weitere Personen vermitteln könne. Xenia telefoniert mit unterschiedlichen Organisationen, dann der Stadtverwaltung der Kleinstadt. Ihr Anliegen wird verständnisvoll aufgenommen, es muss sich aber erst einmal abgesprochen werden. Am Folgetag ruft Xenia noch einmal an, die Stadtverwaltung hat bereits die Polizei kontaktiert, am Tag darauf wird bei der Polizei entschieden zu handeln.

Freiwillige kontaktieren Stadtverwaltung und Polizei

Als am sechsten Tag auf dem Grundstück Polizeiautos vor dem Haus stehen, ist nur Tanja da, bei der Gartenarbeit. Marta konnte zuvor den Gastgeber überreden, mit Olja und den Kindern spazieren zu gehen, die Gastgeberin ruft die beiden an, dass sie nach Hause kommen sollen. Die Frauen haben Angst und verstehen nicht ganz, was vor sich geht. Eine Stunde lang wird panisch telefoniert, Xenia übersetzt zwischen den Ukrainerinnen, Polizei und Stadtverwaltung. Danach fahren die Frauen mit der Polizei aufs Revier und machen mit einer Übersetzerin eine Aussage.

Sie fühlen sich ernst genommen, die Fragen der Polizei sind aber sehr unangenehm.

Aktuell wird der Fall von der zuständigen Polizeibehörde noch geprüft, es wurde Anzeige erstattet; solange die Ermittlungen laufen, werden aber keine konkreten Aussagen getroffen. Wie lange die Ermittlungen noch dauern, ist laut dem zuständigen Polizeipressesprecher schwer zu sagen, vielleicht könnten Mitte Mai erste Ergebnisse bekannt gegeben werden.

Auch Marta ist mit ihren Kindern nach der Abreise vom Grundstück sicher untergekommen. Sie lebt bei einem älteren Ehepaar in einer Kleinstadt vor Leipzig. Dieses spricht zwar kein Ukrainisch oder Russisch, zwingt sie aber zu nichts, auch beim Abwasch wollen sie keine Hilfe.

* Namen wurden von der Redaktion geändert. In der Schreibweise der Stadt Kiew folgen wir dem Wunsch der Protagonistinnen

■ Diese Recherche entstand in Zusammenarbeit mit CORRECTIV.Lokal. Das Netzwerk setzt datengetriebene und investigative Recherchen gemeinsam mit Lokalredaktionen um. Mehr Informationen: correctiv

Illustration: Chris Schneider


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