Unzählige Bücher überfluten den Markt. Martina Lisa, Josef Braun und Michelle Schreiber helfen einmal wöchentlich auf »kreuzer online« bei der Auswahl und teilen Gedanken, die in die Lektüre hineingenommen werden können. Diesmal schreibt Michelle Schreiber über den Mangel an Autorinnen im Vorlesungsverzeichnis der Germanistik an der Universität Leipzig.
»Eine Frau braucht Geld und ein Zimmer für sich allein, wenn sie Bücher schreiben möchte«, lautet die berühmte Feststellung der Autorin Virginia Woolf in ihrem 1929 erschienenen Essay »Ein Zimmer für sich allein«. Woolf beschäftigt sich darin mit den Faktoren, die einer Frau das Schreiben erst ermöglichen. In einem Ausschnitt beschreibt sie ein Gedankenexperiment – was wäre, wenn Shakespeare eine Schwester gehabt hätte, die das gleiche literarische Talent besessen hätte? Wohl kaum hätte sie geschrieben oder wären Werke von ihr erhalten geblieben.
Seit jeher mussten sich schreibende Frauen ihrer Rolle in einer patriarchalen Gesellschaft fügen. Der selbstbestimmte Zugang zu Bildung und Arbeit blieb ihnen verwehrt. Sie schrieben frühmorgens, sie schrieben nachts unter Aufputschmitteln oder noch besser: unter männlichem Pseudonym. Und doch gab es sie immer. Zu diesen Autorinnen wurde aber seltener geforscht. Auch heute werden die Werke von Autorinnen weniger im Feuilleton besprochen, erinnert, gelehrt und in der Literaturgeschichtsschreibung gewürdigt. Dies stellt Nicole Seifert in ihrem Buch »Frauen Literatur – Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt« (KiWi) fest.
Als ich Seiferts Auseinandersetzung mit ihrer Lektüreerfahrung an der Universität lese, reflektiere ich meine eigene. Als Einführung in die Literaturwissenschaft besuchte ich im letzten Semester ein Seminar zur Gegenwartsliteratur, in dem der Erzählband »Lettipark« von Judith Hermann sowie zeitgenössische Lyrik behandelt wurden. Für die Kolumne zähle ich die Lyriker und die Lyrikerinnen – das Verhältnis ist ausgeglichen.
Ich schaue mir die online verfügbaren Vorlesungsverzeichnisse an und merke, dass diese Lehrveranstaltung eine Ausnahme war. Ich zähle die Seminare zur Neueren deutschen Literaturgeschichte, die sich dem Werk eines einzelnen Autors oder einer einzelnen Autorin widmen. Bei nur 15 Prozent handelt es sich dabei um Autorinnen.
Ich stelle außerdem entrüstet fest, dass die meisten Seminare, die sich mit der Literatur von Autorinnen beschäftigten, an der Universität Leipzig fast ausschließlich von Frauen gelehrt wurden. Erst im letzten Jahr unterrichteten zwei Männer Seminare, in denen das Werk einer Frau im Fokus stand. Doch ist dies bereits Fortschritt oder nur eine flüchtige Momentaufnahme?
Darüber hinaus gibt es eine Handreichung mit ein wenig mehr als hundert Werken der deutschen Literatur, von denen für Studierende empfohlen wird, »ab Studienbeginn pro Woche im Durchschnitt einen Text zu lesen«. Auf der Liste der etwa dreißig Titel der Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur finde ich: Christa Wolf, Elfriede Jelinek, Herta Müller, Judith Hermann, Juli Zeh. Wieder etwa 15 Prozent. Naiv sollte man meinen, Frauen und Männer besäßen in den letzten siebzig Jahren den gleichen Zugang zum Literaturbetrieb.
Seitdem Woolf Ihren Aufsatz verfasste, hat sich einiges verändert. Aber es bleibt dabei: Von zwei Geschwistern mit dem gleichen außergewöhnlichen schriftstellerischen Talent, wird es für das Werk des Mannes wahrscheinlicher sein, verlegt zu werden, öfter im Feuilleton besprochen zu werden, den Büchner-Preis zu erhalten oder an der Universität erforscht und gelehrt zu werden. Denn die Machtstrukturen in Verlagen, Zeitungen, Jurys und Universitäten verteilen sich bis heute zur Ungunst von Autorinnen. Dazu kommt Care-Arbeit als unbezahlte Mehrarbeit, die vor allem von Frauen erwartet wird, und ihre Möglichkeit einschränkt, sich dem Schreiben zu widmen.
Deshalb: Verschenkt Bücher von Frauen, lest sie, rezensiert sie, forscht und lehrt zu Werken von Autorinnen! Auch diese Arbeit sollte nicht nur an uns Frauen hängen bleiben. Es gibt genug Titel von Autorinnen, die im Kanon fehlen und die ich gelesen haben möchte, bevor ich mich an beschriebener Handreichung orientiere. Denn obwohl Literatur ziemlich sexy ist, die Literaturgeschichtsschreibung ist vor allem eins: sexistisch.