Vom 16. bis 22. Mai findet das »Off Europa« Festival in Leipzig, Dresden und Chemnitz statt. Ein Fokus auf ein Land war aufgrund der Pandemie nicht möglich. Der künstlerische Leiter, Knut Geißler, erklärt, wie trotzdem ein diverses und spannendes Programm entstanden ist.
»Es wäre falscher Ehrgeiz gewesen, einen Fokus auf ein einzelnes Land zu wagen, dazu braucht man deutlich mehr Recherche.« In einem Satz beschreibt Knut Geißler das Erfolgsgeheimnis hinter »Off Europa« und das Dilemma in der Pandemie. Denn für gewöhnlich reist der kuratierende Festivalchef längere Zeit mehrmals durch ein Land oder eine Region. Dort schaut er Theater, knüpft Kontakte, schaut mehr Theater. Daraus ergeben sich wieder neue Kontakte, Geißler schaut mehr Theater. So entsteht nach und nach das Programm mit dem jeweiligen Länderfokus. Was nun unmöglich war. So entschied sich Geißler, Produktionen nach Leipzig, Chemnitz und Dresden zu holen, die er sonst nicht hätte zeigen können, weil das jeweilige Land schon einmal im Fokus des Festivals gewesen war.
Befragt, ob er ein Elefantengedächtnis hat, sich nach Jahren noch an Stücke derart gut zu erinnern, dass er sie für festivaltauglich hält, winkt Geißler bescheiden ab. »In einem Fall waren es fünf Jahre, dafür hatte ich das Stück zweimal gesehen, aber dieses ›vor Jahren‹ betrifft weniger als die Hälfte des Programms. Natürlich sehe ich mehr Videos und Streams als vor der Pandemie. Viele größere Veranstaltungen, große Festivals und oder Tanzplattformen fanden ja komplett online statt. Reisen war schwierig, ich war unter anderem in der Slowakei, in Slowenien und etliche Male in Prag.«
So war die diesjährige Auswahl auf den ersten Blick eine Verlegenheitsentscheidung. Beim genaueren Hinsehen aber entpuppt sich die Notlage als Glücksfall. Denn nun sind Produktionen zu sehen, die Geißler schon lange gern gezeigt hätte. Petr Forman (Tschechien) wird als illusionierender Solist einen Abend auf den Kopf stellen. In »Graces« persifliert Silvia Gribaudi (Italien) die schöne Scheinwelt perfekter Körper, in dem sie sich mit drei Akrobaten misst. Überwältigenden Tanz aus Israel beinhaltet »Chapters of Joy«: Roni Chadash Dance Projects liefert ein Ensemblestück aus Akkuratesse und Lässigkeit.
Auf diese Weise verwandelte Knut Geißler die Restriktion als Chance fürs Perlentauchen.
Bei der finalen Auswahl der Gastspiele geht er eher intuitiv vor. »Wie ich immer gern sage, das balanciert sich fast von selbst. Ich hatte eine etwa doppelt so lange Shortlist, und dann wähle ich aus, was sich am besten ergänzt und oder befruchtet. Dieses Mal habe mich etwas mehr für die formale Seite der Aufführungen interessiert, daher auch der Untertitel ›Kunststücke‹.«
Den Begriff Best-of meidet Geißler dabei. Natürlich habe er Präferenzen, aber diese stünden nicht im Vordergrund weder früher noch bei der letzten »Off Europa«-Ausgabe, die unter dem Motto »Manöver Meisterstücke« stand. Und jetzt schon gar nicht. »Es ist ganz sicher nicht von Belang, was ich für Vorlieben habe«, sagt Geißler. »Ich mache mir Gedanken über Aufführungsorte, ob Gastspiele dort funktionieren; ob sie etwas erzählen können für ein Publikum, das sich dort versammeln könnte. Die ›Meisterstücke‹ waren einfach gute Beispiele aus dem Portfolio, aus dem Erfahrungsschatz eines intensiv sichtenden Festivals. Für besondere Handschriften, bestimmte Produktionsweisen, für eine große Intensität.« Bei »Kunststücke« ist er anders vorgegangen. »Es ist ein etwas höheres Maß an Abstraktheit und Fragmenthaftigkeit, die Entscheidung für eine gewisse Künstlichkeit, die die Arbeiten zu etwas Besonderem machen«, so der Festivalleiter. Die Balance, zu der er im Programm gefunden hat, beschreibt er als »eine Bandbreite zwischen Experiment und ausgearbeitetem Konzept, zwischen kleiner Entdeckung und tourendem Welterfolg.«
Weitere Informationen zum Thema:
»Off Europa: Kunststücke«, 16.–22. Mai, Programm
Im letzten Jahr wurde das Off Europa 30 Jahre alt. Ein Interview mit Kurt Geißler dazu finden Sie hier.
Titelbild: Am I in the picture? Šimon Lupták