Am Lindenauer Markt ist viel los. Die frühsommerliche Temperatur lockt die Menschen aus ihren Wohnungen. Es duftet nach frisch gebackenen Brötchen und Kaffee. Ein paar Ecken weiter, im Schatten eines Vordachs, riecht es beißend nach Urin. Zwischen Müll, leeren Flaschen und menschlichen Fäkalien hat Adrian* seinen Schlafplatz: eine dünne Pappe, darauf ein Schlafsack. Adrian hatte sich bereit erklärt, dem kreuzer seine Geschichte zu erzählen. Zum vereinbarten Treffpunkt ist er nicht erschienen, sein Schlafplatz ist verwaist und auch sonst ist er nicht auffindbar. So was gehöre auch zu ihrer Arbeit, erklärt Sozialarbeiterin Franziska Weller. Man wisse nie, was der Tag bringen wird und wen man trifft. Sie und ihre Kollegen von Straßensozialarbeit für Erwachsene (SAFE) sind täglich in Leipzig unterwegs. Sie beraten, unterstützen und versorgen ihre Klientinnen und Klienten mit dem Nötigsten. Adrian kennen sie schon länger. Er stammt aus Rumänien und ist zum Arbeiten nach Deutschland gekommen. Er ist obdachlos. Mehr können sie aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht preisgeben. Was wir wissen, ist, dass Adrian einer von etwa 50 bis 80 EU-Bürgern und -Bürgerinnen ist, die auf Leipzigs Straßen leben. Doch von »leben« kann kaum die Rede sein, denn die Situation der Betroffenen ist elend.
Dass es den Menschen derart schlecht geht, habe mehrere Gründe, erklärt Tino Neufert von SAFE. Er beobachte seit knapp zehn Jahren, dass sich vermehrt EU-Bürger und -Bürgerinnen aus Osteuropa auf Leipzigs Straßen aufhalten. Neufert erklärt: »Unsere Klienten kommen hauptsächlich mit der Hoffnung auf einen Arbeitsplatz her, landen auf dem Bau, aber auch in der Logistik oder in der Fleischindustrie – fast alle undokumentiert«, also ohne Urlaub, ohne Krankenversicherung, ohne Arbeitsrecht. Neufert nennt diese Form der Ausbeutung »moderne Sklavenarbeit«. Ein großes Problem sei zudem, dass man nicht viel gegen die perfiden Methoden der Arbeitgeber tun könne, da sich fast niemand der Betroffenen traue, öffentlich auszusagen. »Selbst wir als Sozialarbeiter haben manchmal Angst«, gibt Neufert zu. Manchmal komme es bei der schweren körperlichen Arbeit zu Verletzungen. Resultiert daraus eine Arbeitsunfähigkeit, dann »fliegen die einfach raus«. Neufert berichtet von einem Mann aus Rumänien, der bei einem Arbeitsunfall auf einem Auge erblindete. Hätte er sich getraut, gegen seinen Arbeitgeber auszusagen, hätte er Anspruch auf eine Rente gehabt, stattdessen wurde er rausgeschmissen. Kurze Zeit später verletzte er sich am anderen Auge. Da die Verletzung nicht adäquat behandelt wurde, ist der Mann nun schwer sehbeeinträchtigt. Wie es dem Mann aktuell geht, weiß Neufert nicht. »Wir müssen zuschauen, wie die Menschen auf der Straße verelenden«, kritisiert er. »Wenn jemand kein regelmäßiges Essen, keinen festen Schlafplatz hat, dann kommt es zu schwerwiegenden Folgeproblemen.« Er habe es mit Menschen zu tun, die an Magengeschwüren, Herzproblemen, Abszessen und Bluthochdruck leiden. Neben der enormen psychischen Belastung komme es auch zu Herzinfarkten oder Amputationen – wie bei einem Mann aus Polen, der so starke Erfrierungen erlitt, dass ihm beide Beine amputiert werden mussten. Es habe mehrere Todesfälle in den vergangenen Jahren gegeben, wie Tino Neufert sichtlich berührt erzählt. »Diese Menschen übernehmen Arbeiten, die sonst keiner machen will – und wie gehen wir mit ihnen um? Sie suchen doch nur nach ihrem Glück.«
Die Situation der EU-Bürgerinnen und -Bürger auf Leipzigs Straßen ist prekär. Sie werden scheinbar systematisch aus dem sozialen Gefüge Deutschlands ausgeschlossen. Nur wer als EU-Bürger nachweislich fünf Jahre am Stück in Deutschland gelebt hat, hat Anspruch auf Sozialleistungen. Aber wie sollen Menschen, die undokumentiert arbeiten, auf Baustellen schlafen oder obdachlos sind, keine Krankenversicherung haben, solch einen Nachweis erbringen? Joachim Krauß von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) erkennt darin ein System. Er sagt, es gebe in Deutschland ein »ganzes Gesetzespaket, das vermeintlich unerwünschte EU-Migranten abwehren« soll. Die sogenannte »Sogwirkung«, die von vielen Befürwortern der ausschließenden Gesetze als Argument hervorgebracht wird, sei ein Trugschluss. »Nur weil einem Menschen in Deutschland geholfen wird, kommen nicht tausend weitere«, kritisiert Krauß. Die Gesetze hätten außerdem keine Datengrundlage. »Es gibt keine Gegenüberstellung der Kosten und der Nutzen. Aber die Vorteile aus der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit sind für die deutsche Wirtschaft offensichtlich«, so Krauß weiter. Dabei könnte mit einfachsten Mitteln eine Verbesserung erzielt werden. Er ist der Meinung, »je früher man sich um die Menschen kümmert, desto weniger Kosten und Konflikte würden entstehen«. Den ankommenden EU-Bürgern und -Bürgerinnen müsse die Ankunft erleichtert werden, es brauche sofort Hilfe bei der Anmeldung, Informationen übers Arbeitsrecht und kostenlose Sprachkurse – das könne jede Kommune im Rahmen der engen Gesetzgebung leisten, findet Krauß. Die BAG W fordert ein Ende der ausschließenden Gesetze in Deutschland und eine einheitliche EU-Richtlinie, die die soziale Sicherung reglementiert.
Was unternimmt die Stadt Leipzig? Dem Sozialamt seien die Probleme bekannt, die kommunalen Unterstützungsmöglichkeiten aber »stark begrenzt«. In den Wintermonaten könnten Betroffene kostenlos in Notunterkünften schlafen (die Unterbringung kostet im Regelfall fünf Euro). Zudem gebe es Unterstützung durch Straßensozialarbeiter und -arbeiterinnen, die den Betroffenen bei der Überprüfung von Leistungsansprüchen und bei der Arbeitssuche helfen. Sollte das nicht zum Erfolg führen, »werden die EU-Bürger durch Rückkehrberatung und das Angebot kostenloser Rückreisemöglichkeiten unterstützt«, so das Sozialamt. Neben dem Sozialamt ist auch das Referat Migration und Integration zuständig. Die Anfrage des kreuzer könne wegen der Überlastung resultierend aus dem Ukraine-Krieg nicht beantwortet werden. Sozialarbeiter Tino Neufert steht im engen Austausch mit der Stadt. Er habe das Gefühl, dass sein Anliegen, eine echte Verbesserung der Lebensumstände der Betroffenen zu erreichen, immer mehr in den Fokus der Stadt rückt. Es sei aber noch ein langer Weg.
Innerhalb der engen Gesetzgebung sieht Neufert die vielversprechendste Chance, den EU-Bürgerinnen und -Bürgern helfen zu können, in integrativen Projekten. Das ginge zum Beispiel über kulturelle Veranstaltungen oder gemeinsame Arbeit. Er und das Team von SAFE sind guter Dinge, dass ein solches Projekt bald von der Stadt Leipzig verwirklicht wird – ein Projektplan sei der Stadt bekannt. Für viele der Klienten und Klientinnen von SAFE kämen solche Angebote aufgrund ihrer gesundheitlichen Probleme aber zu spät. So auch für den obdachlosen Adrian. Er wird weiterhin auf einer dünnen Pappe zwischen Müll und leeren Flaschen schlafen, sofern der Zugang zu Sozialleistungen nicht geöffnet wird. Aber Deutschland hat bereits entschieden: Adrian ist unerwünscht.
* Der Name wurde aus datenschutzrechtlichen Gründen geändert.
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Titelfoto: Vincent Ebneth.