Im Januar 2020 fand der letzte »außerordentliche Filmkongress des Hofbauer-Kommandos« in seiner Geburtsstätte, dem KommKino Nürnberg statt. Dann kam die Pandemie. Nun gibt es ein Gastspiel dieser fröhlich-frivolen Feier des Kinos und seiner Ambivalenzen im Luru-Kino. Vier Tage, 13 analoge Lang- plus Kurzfilme im Souterrain und Open-Air und viele kuriose Entdeckungen sind garantiert beim Zusammentreffen der Connaisseurinnen und Connaisseure des schlechten Geschmacks.
9.–12.6., Luru-Kino in der Spinnerei
Film der Woche: Ihre Mutter war mit 30 schon verheiratet, ihre Oma bereits zweifache Mutter und ihre Ur-Ur-Ur-Ur-Großmutter bereits gestorben. Julie ist Ende zwanzig und hat keine Ahnung, was sie will. Sie hat Medizin studiert, bis sie feststellte, dass sie doch lieber Fotografin sein will. Sie fängt eine Beziehung an, nur um sich neu zu verlieben. Als sie in der intellektuellen Künstlerszene Oslos den gefeierten Underground-Comickünstler Aksel kennenlernt, verliebt sie sich sofort. Die beiden scheinen sich zu ergänzen, führen lange Gespräche bis tief in die Nacht. Als Julie auf Eivind trifft, setzt es in ihr einen Gedanken frei, der die Nähe zu Aksel zerstört. Die scheinbar unendliche Vielzahl der Möglichkeiten unserer Zeit offenbart eine trügerische Freiheit, die sich zum Gegenteil wendet. Das Versprechen, alles sein zu können, steht der Entscheidung im Weg. Joachim Trier (»Reprise«) analysiert diese Krankheit einer Generation in seinen Filmen mit genauem Blick. Seine sorgfältig ausgearbeitete Geschichte in zwölf Kapiteln, Pro- und Epilog spiegelt die menschlichen Verhaltensweisen mit all ihren Fehlern und Widersprüchen. Sein Film trifft einen universellen Nerv, zu Recht regnete es daher Lob und Preise weltweit. Zu sehr großen Teilen ist das auch seiner Hauptdarstellerin Renate Reinsve zu verdanken, die in Cannes vollkommen verdient als beste Darstellerin ausgezeichnet wurde.
»Der schlimmste Mensch der Welt«: ab 2.6., Passage-Kinos, Schauburg
Bestattungsunternehmer Louis ist ein Meister seines stillen Fachs. Unaufdringlich kümmert er sich um die Wünsche vorausplanender Menschen und trauernder Hinterbliebener. Nach einem Hausbesuch gerät er eines Tages in den Gegenverkehr und drängt Transportdreiradfahrer Igor von der Straße eine Böschung hinunter. Glücklicher- weise ist der körperbehinderte Mann nur leicht verletzt und nachdem Louis im Krankenhaus noch einmal pf lichtschuldig nach ihm gesehen hat, trennen sich ihre Wege. Vorerst, denn Igor – sympathisch, belesen, stets freundlich und höflich, aber aufgrund seiner Behinderung vom sozialen Leben oft ausgeschlossen – hat sich in den Kopf gesetzt, den spröden Bestatter als Freund zu gewinnen. Der Mix aus Road- und Buddymovie fügt dem überstrapazierten Genre »französischer Wohlfühlfilm« nicht von ungefähr einen der gelungensten Einträge der letzten
Jahre hinzu: Regisseur und Louis-Darsteller Bernard Campan und Schauspieldebütant Alexandre Jollien, der zu den profiliertesten Philosophen Frankreichs zählt und mit zerebraler Kinderlähmung geboren wurde, sind seit Jahren befreundet und haben sich ihre Rollen selbst auf den Leib geschrieben. Zwar recht vorhersehbar, aber mit gut dosiertem Humor und jeder Menge Respekt und Liebe für ihre Figuren nehmen sie das Publikum mit auf die Reise zweier Menschen, die sich erst gemeinsam dazu aufschwingen, im echten Leben anzukommen. PETER HOCH
»Glück auf einer Skala von 1 bis 10«: ab 2.6., Passage-Kinos, Regina-Palast, Schauburg
Als der junge Soldat Hiro Onoda mit seiner Einheit auf der philippinischen Insel Lubang landet, begleitet ihn eine streng geheime Order. Sie sollen die Insel halten, koste es, was es wolle. Der Freitod ist ihnen verwehrt. Nur der befehlshabende Major Yoshimi Taniguchi ist befugt, die Mission zu beenden. Doch es ist das Jahr 1945 und der Krieg für die Japaner so gut wie verloren, der Angriff der Amerikaner verheerend. Onodas Einheit wird vernichtet. Japan kapituliert. Doch davon bekommen der Soldat und die verbliebenen Männer nichts mit. Immer tiefer ziehen sie sich zurück in den Dschungel. Sie beobachten die lokalen Farmer und sehen in jedem von ihnen einen Feind. Hunger und Paranoia treiben sie allmählich in den Wahnsinn. Basierend auf den Aufzeichnungen des letzten Soldaten des Krieges und seiner 10.000 Nächte im Dschungel inszenierte der Franzose Arthur Harari ein dichtes Drama, das den Konflikt zwischen fanatischer Pflichterfüllung und der menschlichen Natur schildert. Gedreht mit japanischen Darstellern im Dschungel von Kambodscha werden die drei Jahrzehnte fühlbar mit einer fast dreistündigen Laufzeit. Rückblenden schildern die Guerilla-Ausbildung des jungen Soldaten und die Unterweisung in seine Sondermission mit dem Ziel, um jeden Preis am Leben zu bleiben. Trotz der ruhigen Erzählweise hat „Onoda“ keine Längen. Vielmehr verdichtet sich der Plot mit dem Eintritt in den Dschungel. Die schwüle Hitze der Tropen kondensiert förmlich auf der Leinwand. In Cannes läutete „Onoda“ im vergangenen Jahr die Nebensektion Un Certain Regard ein, nach einer langen Abstinenz des Kinos. Eine vortreffliche Wahl, denn Hararis Film, der mit dem César für das Beste Originaldrehbuch ausgezeichnet wurde, sollte unbedingt auf der Leinwand erlebt werden.
»Onoda - 10.000 Nächte im Dschungel«: ab 2.6., Luru-Kino in der Spinnerei
Für Leonard (Mark Rylance) läuft alles nach Maß: Der Schneider liebt die Ordnung. Im Chicago des Jahres 1956 ist er damit jedoch am falschen Ort, denn organisiert ist hier nur die Kriminalität. Gangs beherrschen die Stadt, die Familien irischer und französischer Immigranten führen einen blutigen Kampf um die Vorherrschaft. Derweil ist Leonards Laden, den er nur mit seiner jungen Assistentin Mable (Zoey Deutch) führt, ein Ort des Friedens inmitten des Sturms. Doch die Brandung schlägt auch an seine Tür und ihm bleibt keine Wahl, als die Gangster sich ausgerechnet sein Atelier für ihren täglichen Briefwechsel mit einer mysteriösen Verbrecherorganisation namens »The Outfit« ausgucken. So gehen zwielichtige Gestalten bei ihm ein und aus und der Schneider pflegt die britische Verschwiegenheit. Bis die Rivalität in einer Nacht eskaliert und Leonard gezwungen ist, sich für eine Seite zu entscheiden.
Mark Rylance verkörpert den feinen Engländer mit Ruhe und Verschlossenheit. Sein nuanciertes Schauspiel steht im Zentrum des doppelbödigen Kammerspiels, das im Laufe seiner knapp zwei Stunden mit einigen Twists aufwarten kann, im Showdown aber vielleicht etwas über die Stränge schlägt. Drehbuchautor Graham Moore (»The Imitation Game«) nutzt den abgesteckten Raum seines Regiedebüts zu seinem Vorteil und verdichtet die Spannung. Dabei wird allerdings mitunter deutlich, dass »The Outfit« in einer Londoner Studiokulisse entstand. Auf Außenaufnahmen verzichtet die Inszenierung komplett, was vermutlich auch mit den besonderen Drehbedingungen unter Corona zu erklären ist. Oscar-Preisträger Mark Rylance, der sein Schneiderhandwerk für den Film bei den aus »Kingsman« bekannten »Huntsman Tailors« in der Londoner Savile Row lernte, gelingt es aber stets, den Zuschauer in seinen Bann zu ziehen.
»The Outfit«: ab 2.6., Passage-Kinos
Ein Mann, eine Apothekentüte. Von einer der ersten Minuten bis zur letzten hält Joscha sie in der Hand, während er in diesem ohne jeden Schnitt gedrehten Impro-Film von Malte Wirtz („Nur ein Tag in Berlin“) durch die Kölner Winternacht streift. Die Tüte gehört der Nachbarin, sie und der recht verlorene Held begegnen sich kurz, während er auf einen Dealer wartet. Normalerweise nimmt Joscha ja keine Drogen, aber in dieser Nacht hat er es aus irgendeinem Grund vor. Doch er wird aufgehalten von zwei alten Schulfreunden, die ihn (und uns!!) mit ihren Egotrips nerven. Klingt anstrengend und langweilig und genau das ist es auch. Zwar ist Joscha nicht unsympathisch, es ist aber schwer, ihm zu verzeihen, dass er die beiden Nervensägen nicht mit Nachdruck und sofort dahin schickt, wo sie hergekommen sind. So entgeht ihm und diesem Film über eine viel zu lange Zeit die Chance, etwas irgendwie Interessantes zu erleben, zum Beispiel die besonderen Schauplätze und kuriosen Typen zu entdecken, die eine Nacht in Köln doch wohl hoffentlich zu bieten hätte? Stattdessen wird endlos (ein) Bier trinkend durch ein highlightfreies Irgendwo gelatscht und mit affektiertem Getue über „Und was machst du jetzt so“ und „Was macht eigentlich die und die“ palavert. Schon nach kurzer Zeit wird so das Gefühl eines Klassentreffens erweckt, zu dem man nie hinwollte – aus Angst, genau solche Gestalten wiederzusehen. Einzig das Ende stimmt ein kleines bisschen versöhnlich. KARIN JIRSAK
»Lichter der Stadt«: ab 3.6., Luru Kino in der Spinnerei
Weitere Filmtermine der Woche
Flat Earth Society vertont »Die Austernprinzessin«
D 1919, R: Ernst Lubitsch, D: Victor Janson, Ossi Oswalda, Harry Liedtke, 60 min
Lustspiel von Ernst Lubitsch, vertont von der belgischen Jazz-Bigband »Flat Earth Society«. Ukraine-Soli.
UT Connewitz, 10.06. 20:00 (Ukraine-Soli)
Frau ohne Gewissen
USA 1944, R: Billy Wilder, D: Fred MacMurray, Barbara Stanwyck, Edward G. Robinson, 107 min
Der Versicherungsagent Walter Neff wird aus Liebe zum Komplizen der gewissenlosen Phyllis Dietrichson, die ihren Mann ermorden will, um ein Vermögen aus seiner Lebensversicherung zu kassieren. Meisterhaft inszenierte, düstere Kriminalgeschichte von Billy Wilder.
Bibliotheca Albertina, 08.06. 20:00 (Filmreihe »German Expressionism in Hollywood«, OmU)
Heikos Welt
D 2021, R: Dominik Galizia, D: Martin Rohde, Leyla Roy, Heike Hanold Lynch, 118 min
Ein Sohn versucht das Augenlicht seiner Mutter zu retten, indem er Dart spielt und jede Menge Bier dabei trinkt. Liebevolle Reise durch die Berliner Kneipenwelt mit ihren ganz eigenen originellen Charakteren.
Ost-Passage-Theater, 08.06. 20:00 (OmeU)
Im Umbruch – Go. Stay. Dance.
D 2022, R: Barbara Lubich
Filmische Begegnung mit drei Künstlerinnen aus drei Jahrgängen über ihren Tanz zwischen Alltag und Vision, Kunst und Kunstbetrieb, Eigensinn und Gemeinschaft, verschwundenen Grenzen und beständigen Werten.
Luru-Kino in der Spinnerei, 07.06. 21:15 (OmU)
Jochen macht Triathlon
D 2022, R: Larsen Sechert, D: Daniel Weißbrodt, Ronja Rath, Oskar Naumann
Jochen ist arbeitslos, wohnt allein und hat keine nennenswerten Freunde. Um seine Tochter zu beeindrucken, trainiert er für den Triathlon. Unabhängig produzierte Komödie von »Knalltheater«-Impresario Larsen Sechert.
Sommerkino auf der Feinkost, 03.06. 21:30 (Premiere mit Gästen)
La Boum – Die Fete
F 1980, R: Claude Pinoteau, D: Claude Brasseur, Brigitte Fossey, Sophie Marceau, 110 min
Kultklassiker mit Sophie Marceau, Claude Brasseur, Engtanz und »Reality«.
Cineplex, 07.06. 20:00 (Best of Cinema) ; Regina-Palast, 07.06. 20:00 (Best of Cinema)
Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens
D 1922, R: F. W. Murnau, D: Max Schreck, Greta Schroeder, Gustav von Wangenheim, 94 min
Murnaus Klassiker des Vampirfilms, begleitet von Richard Siedhoff an der historischen Kinoorgel.
Musikinstrumentenmuseum der Universität Leipzig, 04.06. 16:00 (im Rahmen des WGT)
Schalom und Hallo
Seit 1700 Jahren leben Jüdinnen und Juden auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands. Das ARD-Gemeinschaftsprojekt »Schalom und Hallo« vermittelt unterhaltsam Einblicke in das jüdische Leben und greift Aspekte aus Religion, Kultur sowie der jüdischen Geschichte in Deutschland auf.
Ariowitsch-Haus, 08.06. 19:00
Shooting the Mafia
USA/IRL 2019, Dok, R: Kim Longinotto, 94 min
Porträt der investigativen Fotojournalistin Letizia Battaglia, die die Machenschaften der Cosa Nostra zum ersten Mal für die Öffentlichkeit sichtbar machte. Mit Einführung.
Frauenkultur, 02.06. 19:00 (Letizia Battaglia. Als Fotografin mutig gegen die Mafia)
Shorts Attack: Oscar Shorts: Live Action
Eine Auswahl nominierter Kurzspielfilme für den Academy Award 2022.
Sommerkino vor der Plagwitzer Markthalle, 03. Juni, 22 Uhr
Vikram
IND 2022, R: Lokesh Kanagaraj, D: Kamal Haasan, Fahadh Faasil, Vijay Sethupathi, 146 min
Indischer Actionthriller im Tamil-Original mit englischen Untertiteln.
Cineplex, 04.06. 19:00 (OmeU), 05.06. 11:00 (OmeU)
Titelbild: Filmstill aus »Der schlimmste Mensch der Welt«, Copyright Oslo Pictures