Beim Audiowalk »System Innenstadt« vom Regisseur Jörg Karrenbauer soll die Leipziger Innenstadt auf die Probe gestellt werden. Formal sind die Audiospuren reibungslos aufeinander gestimmt, inhaltlich sind sie jedoch überraschend unkritisch.
Der Stadtraum mit seinen architektonischen Grenzsetzungen ist Ausdruck unseres gesellschaftlichen Systems und beeinflusst unser Leben, choreografiert es mit vorgegebenen Bewegungsrichtungen und legt nur bestimmte Möglichkeiten der Zusammenkunft nahe. Orte des Verweilens und des schnellen Fortgangs sind voneinander geschieden, wer diese Ordnung durchbricht, stört. Bewegt man sich alltäglich durch die Leipziger Innenstadt, werden diese Bewegungsgesetze gedankenlos befolgt. Das Regelsystem der Großstadt, die Eigendynamik der Massen ist verinnerlicht, durch Übung und Wiederholung gefestigt.
Der von Regisseur Jörg Karrenbauer entwickelte Audiowalk »System Innenstadt«, gezeigt im Rahmen der urbanen Langzeitbespielung »Pay Attention« des Schauspiel Leipzigs, versucht diese Ordnung explizit zu machen. Etwa 25 mit Kopfhörern ausgestattete Menschen bewegen sich über Kopfsteinpflaster und Asphalt, brechen Regeln und begegnen den Wahrern der Ordnung. Fast zwei Stunden bewegen sich die Zuhörerinnen durch die Stadt, gelenkt durch körperlose Stimmen, und werden selbst zu Akteurinnen für Passierende. Solide postdramatisch spielt der Walk mit verkehrten Blickachsen und hinterfragt die eigene Machtposition, aus der heraus sich die Menschen leiten lassen. Die Audiospuren sind reibungslos aufeinander abgestimmt, auch wenn die Gruppe gedrittelt wird, finden alle wieder zusammen.
Jenseits der formalen Aspekte, die eine Reflektion über verinnerlichte Regeln im System Innenstadt, Theater und Audiowalk beinhalten, bleibt die inhaltliche Gestaltung, die durch kurze Interviews gefüllt wird, überraschend systemaffirmierend. Die Interessen der Höfe am Brühl, in dem sich besonders seit der Pandemie Leerstand weiterausbreitet, werden mit denen einer Hotelleiterin kontrastiert, die eine Unterkunft mit individueller Note führt. Ein Obdachloser kommt zu Wort, der seine Lage mehr als Lifestyle-Choice beschreibt und das Versagen kommunaler Wohnprojekte eher am Rande erwähnt. Dann auch noch ein freundlicher, menschgebliebener Bürgerpolizist, der es beim Radfahren in der Innenstadt auch mal bei einer Verwarnung belässt. Das System Innenstadt läuft doch, Wohnungslose und Einzelhändler haben ihren Platz. Nur den Konsum müsste man etwas ankurbeln, das belebt auch die von Einkaufsketten gesäumten Straßen. Wo ist da der kritische Impuls? Als Utopie bietet der Walk schließlich noch die Vorstellung einer autofreien Innenstadt an. Hier fantasieren grüne Sozialdemokraten, deren Träume vom Neoliberalismus kolonisiert sind.
In seinem utopischen Roman »Kunde von Nirgendwo« spinnt William Morris ein paar der gescheiterten Träume der Pariser Kommune fort und schlägt eine kollektive Neunutzung des städtischen Raumes vor. Die Nelson-Säule auf dem Trafalquar Square, ein totes Zeichen imperialistischer Herrschaft, wird in der Erzählung zerschlagen, um ein anderes Leben zu gestalten, in dem Schönheit den Alltag durchwirkt. Nun wächst ein Aprikosenhain auf dem zentralen Platz in London, der sich so in einen nach dem Lustprinzip gestalteten kollektiven Raum verwandelt. Ich träume lieber von Aprikosenhainen auf dem Augustusplatz als von Realpolitik, von einer lebenswürdigen Stadt, die nicht von ökonomischen Interessen, sondern vom guten Leben für alle bestimmt wird.
Weitere Termine:
Samstag, 25., 27., und 30. Juni, sowie 2., 4., und 13. Juli, jeweils 18:30 Uhr
Start- und Endpunkt: Kassenfoyer des Schauspiel Leipzig
Titelbild: Amelie Gohla, Schauspiel Leipzig