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Stadtleben

Von wegen Boys don’t cry

Über Männer, die Gewalt erfahren

  Von wegen Boys don’t cry | Über Männer, die Gewalt erfahren

Männer müssen stark sein – so lautet ein noch in weiten Teilen der Gesellschaft verbreiteter Anspruch. Wenn Männer Gewalt erfahren, wird das deswegen oft nicht ernst genommen. Die Folge: Schutzeinrichtungen sind im ganzen Land unterrepräsentiert.

Alle Menschen erfahren Gewalt, in jeglicher Art und Form, somit auch Männer. Häusliche Gewalt, Gewalt in der Partnerschaft, Mobbing und Übergriffe am Arbeitsplatz, Zurückweisung und Herabsetzung – Erfahrungen physischer und psychischer Gewalt sind ganz unterschiedlich. Und weil Jungen und Männer von der Gesellschaft noch immer oft in die Rolle des sogenannten starken Geschlechts gedrängt werden, das möglichst unverwundbar sein soll, ist es wenig überraschend, dass sie Schwierigkeiten haben, über ihr emotionales Befinden zu sprechen oder sich professionelle Hilfe zu suchen. Eine Erhebung der Kaufmännischen Krankenkasse KKH aus dem Jahr 2018 zeigt zwar, dass 84 Prozent der versicherten Männer 2017 einen Arzt oder eine Ärztin aufsuchten (unter den Frauen waren es 94 Prozent), dies aber vor allem, weil sie konkrete Verletzungen oder Krankheiten hatten. Nach- oder Vorsorge und psychische Gesundheit spielten eine untergeordnete Rolle.

Der kreuzer rief im April via Instagram dazu auf, dass Männer, die Gewalt ausgesetzt waren oder sind, sich melden könnten, um anonym darüber zu sprechen. In den Interviews mit den Betroffenen wurde klar, dass deren Gewalterfahrungen sehr divers sind – und dass Gewalt sehr unterschiedlich definiert wird.

Aus einer polizeilichen Statistik vom LKA Sachsen geht hervor, dass von 2019 bis 2021 durchschnittlich 6.700 Gewaltkriminalitätsdelikte jährlich erfasst wurden. Darunter fallen zum Beispiel Mord, Totschlag, Vergewaltigung, Raub und Erpressung. Für 5.750 dieser Delikte sind Männer verantwortlich. Gleichzeitig sind Männer aber zumindest in der Statistik auch diejenigen, die am häufigsten Gewalt erleben: Von jährlich rund 9.000 Opfern von Gewaltkriminalitätsdelikten in Sachsen sind rund 6.500 Männer.

Rund ein Viertel der Opfer häuslicher Gewalt sind Männer

Im Bereich der häuslichen Gewalt sieht das jedoch ganz anders aus: »So wurden sachsenweit 5.716 Frauen und 2.038 Männer durch Gewalt im häuslichen Umfeld geschädigt. Dennoch kann man erkennen, dass etwa ein Viertel der Opfer häuslicher Gewalt dem männlichen Geschlecht zuzuordnen sind. Dies zeigt, dass alte Denkmuster, in denen Männer keine Opfer von Gewalt in Partnerschaften oder Familien werden, falsch sind«, berichtet die Polizeidirektion Leipzig mit Zahlen aus dem Jahr 2019. Die Hochschule Merseburg kam in einer Online-Befragung im Jahr 2020 zu dem Ergebnis, dass 30 Prozent der Opfer häuslicher respektive partnerschaftlicher Gewalt Männer seien.

Angst vor der Anzeige des eigenen Falls

Dieter* erzählt dem kreuzer, dass er nach einer Schlägerei in einer Kneipe die Polizei rief – die aber nicht kam und das damit begründete, dass sowas ja ständig passiere. Auch im Nachhinein hat Dieter* keine Anzeige erstattet, aus Scham: Wenn man über die erfahrene Gewalt spreche, mache man sich vielleicht lächerlich. Diese Angst wurde dem kreuzer von mehreren Betroffenen geschildert – dass Männer ihre Fälle aus Scham nicht bei der Polizei anzeigen und weil sie Angst haben, dass ihnen nicht geglaubt wird. Die Polizeidirektion Leipzig teilte dazu schriftlich mit: »Die Wahrung und der Schutz der Grundrechte jedes und jeder Einzelnen stehen bei polizeilich relevanten Sachverhalten immer im Vordergrund. Hierzu zählt auch der Grundsatz der Gleichbehandlung und Neutralität. Eine Diskriminierung aufgrund einer bestimmten Geschlechtszugehörigkeit ist rechtswidrig.« Nicht mal im Freundeskreis sprechen mehrere der vom kreuzer Befragten über ihre Gewalterfahrungen, weil dort Erfahrungen mit Gewalt oft kleingeredet oder abgetan würden.

Gewalterfahrungen in der Schule

Jack* erzählt dem kreuzer von physischen und psychischen Gewalterfahrungen in seiner Schulzeit, konkret der Zeit der Klassenstufen 5 bis 7. Die Lehrkräfte hätten nur wenig interveniert gegen die Gewalt ausübenden Mitschüler, denn »ein Junge muss sich doch selbst wehren können.« Auch Peter* berichtete dem kreuzer von Gewalterfahrungen in der Schulzeit, die von Lehrern und Lehrerinnen kleingeredet wurden. Bei einem Gefühlsausbruch im Klassenzimmer habe er sich anhören müssen: »Komm, reiß dich mal zusammen! Du bist doch groß genug, du schaffst das schon. Schau dir mal das kleine Mädchen neben dir an!« In einem Schullandheim wurde Peter von einem Mitschüler in der Gruppendusche fotografiert. Noch heute fühle er sich in öffentlichen Räumen oft unwohl.

Erst Gewalt im Elternhaus, dann politisch motiviert

Auch Norbert* erfuhr schon im Kindesalter Gewalt. Sein Vater sei ein Choleriker und Schläger gewesen, aber »was bei mir Schäden hinterlassen hat, ist nicht etwa, dass mein Vater mich geschlagen hat, sondern dass er nicht verfügbar war«, sagt Norbert* heute. Seine Mutter sei noch weniger emotional verfügbar gewesen: »Selbst das Angebrüllt- und Geschlagen-Werden war mehr Achtung und Anerkennung und ›Du existierst für mich‹ als diese völlige Missachtung.« Als Kind flieht Norbert in Fantasiewelten beim Spielen und schlüpft in andere Rollen. Als Jugendlicher wird Norbert Punk – und erfährt wieder Gewalt, vor allem von Neonazis, aber auch aus den eigenen Reihen: Als er als Zeuge vor Gericht geladen wird, vermitteln ihm einige aus der linken Szene, dass er diese Aussage verweigern solle, um nicht mit dem Staat zu kooperieren. Für manche in seiner eigene Szene galt er als »vogelfrei, sprich, wenn man mich sieht, darf man mir aufs Maul hauen.« Das Verletzen sozialer Bedürfnisse wie Zuneigung, Anerkennung, Autonomie und Selbstverwirklichung macht für Norbert das Wesen von Gewalt aus. Rollenspiele wie im Kindesalter helfen dem Jugendlichen nicht mehr, um erfahrene Gewalt zu verarbeiten – das tun einerseits Autoaggressionen wie Haare zupfen, Wunden aufkratzen, Fingernägel blutig kauen und andererseits rauschhaftes Risikoverhalten, etwa im Straßenverkehr und in herbeigeführten Gefahrensituationen, exzessivem Diebstahl, heftiger Überversorgung des Sexualtriebes, auch durch Selbstbefriedigung. Mittlerweile kompensiere er Zurückweisungen durch Freunde und Freundinnen durch exzessiv ausgeübten Sport und andere körperliche Verausgabung.

In der Partnerschaft erfahrene Gewalt

Thomas* berichtet von seiner toxischen Ehe, aus der er nur schwer herauskam, und von verschiedenster Abwertung durch seine Exfrau: »Wenn es ihr gerade nicht passte, wurde sie richtig laut und respektlos. Dann wird man als Arschloch und Versager vor den Kindern am Frühstückstisch beschimpft. Man lebte irgendwann nur noch parallele Leben, ignorierte die Schreierei und die Beschimpfungen, die Herabsetzungen, und versuchte, die Konflikte so gut es geht zu vermeiden, was viel Heimlichkeit erforderte.« Thomas* beschreibt das Zusammenleben an anderer Stelle im Gespräch, wie das mit einem Vulkan, der jeden Moment ausbrechen kann. Auch physische Gewalt erfuhr Thomas* in der Ehe – in Form von Ohrfeigen, leichten Schlägen und einem Gabelwurf. Noch heute, fast fünf Jahre nach der Trennung, wird Thomas von seiner Exfrau abgewertet und vor seinen Kindern schlechtgemacht.

Hilfsangebot in Leipzig

Im Zuge der Recherche zu diesem Artikel hat der kreuzer auch mit Jan und Sebastian vom Verein Lemann gesprochen. Der Verein betreut die Männerschutzeinrichtung in Leipzig und bietet zusätzlich Beratungen an. Die Männerschutzeinrichtung kann von Männern und ihren Kindern in Anspruch genommen werden, um aus schwierigen Wohnverhältnissen herauszukommen. In mehreren Gesprächen wird abgewogen, ob eine Unterbringung notwendig und gewollt ist. Erst dann erfährt der Betroffene, wo sich die Einrichtung befindet. Besuche sind dort nicht gestattet, Post wird an eine externe Adresse zugestellt – die Lage ist geheim, um alle Beteiligten zu schützen. Das Leben in der Männerschutzeinrichtung gestaltet sich dann wie in einer ganz »normalen« WG, allerdings mit der Unterstützung der Mitarbeitenden vom Verein. Was den Bereich der Männerschutzarbeit angeht, ist Sachsen übrigens Vorreiter – mit drei Männerschutzeinrichtungen. Zum Vergleich: bundesweit gibt es derzeit elf solcher Häuser, mit insgesamt rund 35 Wohnplätzen. Dadurch sei der Bedarf viel höher als das Angebot, berichten die beiden Lemann-Mitarbeiter Jan und Sebastian. Anfragen kämen aus ganz Deutschland. Das Thema sei in den letzten Jahren bekannter geworden, aber meist sorge die Tatsache, dass es Männerschutzeinrichtungen gibt, immer noch für Überraschung.

FRANZ SCHMIDT

*Namen von der Redaktion geändert. Von den fünf Männern, mit denen unser Autor sprach, haben sich zwei professionelle Hilfe gesucht, ein weiterer denkt darüber nach. Der kreuzer bedankt sich bei den fünf für ihre Offenheit in den Gesprächen, welche wir nicht als Selbstverständlich ansehen. Dieser Text soll keinesfalls Gewalt gegenüber FLINTA*-Personen relativieren, sondern lediglich das gesellschaftlich tabuisierte Thema Gewalt gegen Männer benennen. Einen Bericht über die Situation der Frauenhäuser in Leipzig während der Pandemie können Sie hier lesen.


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