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Kultur

Bleibende Wunden

Der Film »Evolution« feiert Premiere in den Leipziger Passage Kinos

  Bleibende Wunden | Der Film »Evolution« feiert Premiere in den Leipziger Passage Kinos

Der auch in Leipzig gedrehte »Evolution« von Regisseur Kornél Mundruczó setzt sich mit den Narben des Holocaust auseinander. Heute feiert der Film in den Passage Kinos Premiere. 

Es ist noch nicht lange her, dass der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó mit »Pieces of a Woman« endgültig den internationalen Durchbruch schaffte. Vor allem die Eröffnungssequenz, eine fast halbstündige Geburtsszene in nur einer einzigen Einstellung, sorgte weltweit für Aufsehen. Lange Einstellungen finden sich auch in »Evolution«, dem neuen Film von Mundruczó, der in nur dreizehn Tagen in Ungarn, Berlin und Leipzig gedreht wurde.

Grundlage bildet ein Drehbuch von Kata Wéber, einer Weggefährtin des Regisseurs. Vor drei Jahren erarbeiteten die beiden ein Musiktheaterstück, das im Rahmen der Ruhrtriennale seine Premiere feierte und sich mit Überlebenden des Holocaust beschäftigte. »Evolution« ist die Weiterentwicklung dieses Projektes. In drei Episoden erzählt der Film von den generationsübergreifenden Folgen des Holocaust.

Die erste Episode beginnt in einer Gaskammer bei stark gedämpftem Licht. Drei Männer in schweren Ledermänteln säubern den grauenerregenden Ort, ohne ein Wort zu wechseln. In einer einzigen, langen Einstellung begleitet die Kamera sie bei ihrer Arbeit. Rätselhaft ist das und erinnert in seiner Lichtgestaltung stark an den Oscar-Gewinner »Son of Saul«, einen anderen international beachteten ungarischen Film der letzten Jahre, der sich mit den Vernichtungslagern auseinandersetzte. In »Evolution« ist das Konzentrationslager bereits befreit. Die drei Männer stellen sich am Ende der Einstellung als polnische Sanitäter heraus, die in der Gaskammer einen unerwarteten Fund machen. In einem Erdloch verborgen finden sie ein junges Mädchen namens Éva, schreiend.

Obwohl »Evolution« ein sehr persönlicher und eher kleiner Film ist, gelang es seinem Regisseur mit Yorick Le Saux, der bereits Olivier Assayas’ »Personal Shopper« und »Only Lovers Left Alive« für Jim Jarmusch in schummeriges Licht tauchte, einen renommierten Kameramann für die anspruchsvollen Szenen zu finden.

Auch in der zweiten Episode bildet eine lange Einstellung das Zentrum. Éva, inzwischen eine alte Frau, erhält Besuch von ihrer Tochter Léna, die Papiere benötigt, um in Deutschland ihr Jüdischsein nachweisen zu können. Ein absurder Moment, aber auch einer, der Mutter und Tochter in die Auseinandersetzung drängt. Gefangen in einer kammerspielartigen Situation reflektieren sie die Narben, die der Holocaust bei ihnen hinterlassen hat. Auf die Vorwürfe der Tochter über die harte Erziehung der Mutter reagiert diese mit immer neuen Geschichten vom Grauen des KZ. Indem die Kamera stets dicht an den Protagonistinnen bleibt, enthüllt sie Stück für Stück die Wunden der beiden, die bis in die dritte Episode klaffen. Dort versucht Évas Enkel Jonas im Berlin der Gegenwart, seine Familiengeschichte vor den Mitschülern zu verbergen. Wie Jonas sind auch Wéber und Mundruczó vor einiger Zeit von Ungarn nach Deutschland gezogen. »Wenn man in ein neues Land zieht, muss man seine Identität und die seiner Familie neu definieren«, erklärte Wéber dazu in einem Interview.

Bei den Dreharbeiten zur letzten Episode scheint sich zudem für die Filmemacher das Klischee bestätigt zu haben, wonach Leipzig das neue Berlin ist: Ein Großteil der Szenen, die in Berlin spielen sollen, wurden hier gedreht. So auch das große Finale, ein Martinsumzug, bei dem die Lehrerin besonders viel Wert darauf legt, dass der jüdische Jonas seine Laterne hochhält und mitsingt. Doch dieser hat keine Lust auf die christliche Tradition, die ihm sein Anderssein deutlich aufzeigt, wenn sie in Gestalt der Pädagogin scheinbar die Arme öffnet. Mit seiner Freundin reißt er aus und läuft die Treppe am Westbad hinunter zum Karl-Heine-Kanal. Dort sitzen die beiden Jugendlichen in der letzten Einstellung des Films. Zwei Außenseiter, die sich gefunden haben. Ein passendes Schlussbild für einen Film, der auf ergreifende Weise zeigt, wie Leid und Terror über Generationen weitergegeben werden können und wie schwer es mitunter ist, seinen Platz in der Welt zu finden. »Evolution« erreicht mit wenigen Mitteln sehr viel.


Titelfoto: Filmstill, Copyright: Dulac Distribution


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