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Stadtleben

Wenn offene Jugendarbeit an ihre Grenzen stößt

Wegen Vandalismus und Gewalt musste der Freizeittreff Sellerhausen vorläufig schließen

  Wenn offene Jugendarbeit an ihre Grenzen stößt | Wegen Vandalismus und Gewalt musste der Freizeittreff Sellerhausen vorläufig schließen

Unter den S-Bahn-Linien hindurch, direkt auf der rechten Seite: den offenen Freizeittreff, kurz OFT Sellerhausen findet man gut. Eigentlich liegt er idyllisch im Grünen auf einer kleinen Anhöhe. Ringsherum ein Fußweg, eine Kleingartensiedlung, ein Rewe. Das kastenförmige Gebäude ist bunt bemalt, es gibt Tischtennisplatten und einen Basketballplatz. Einladend wirkt der Ort allerdings nicht, bei genauerer Betrachtung fällt auf: die Fensterscheiben sind teilweise eingeschlagen oder mit Brettern vernagelt, die Tür ist verschlossen, Glasscherben liegen auf dem Boden. Seit Mitte Februar 2022 ist der OFT Sellerhausen geschlossen, die Konsequenz einer Entwicklung, die sich lange angedeutet hat. Der Versuch einer Rekonstruktion.

Sellerhausen-Stünz ist ein Leipziger Stadtteil, in dem nicht viel passiert. Richtung Innenstadt liegt die Eisenbahnstraße: ein lebhaftes Viertel, Waffenverbotszone, immer viel los. Stadtauswärts kommt Paunsdorf, von der Stadt als »benachteiligter Stadtteil mit erheblichem Entwicklungspotential« definiert. Und dazwischen eben Sellerhausen-Stünz. Ein Viertel, das die öffentliche Aufmerksamkeit bräuchte, aber noch nicht bekommt. Es gibt wenige Vereine und öffentliche Plätze. Deshalb ist die offene Kinder- und Jugendarbeit gerade dort wichtig. Seit über 20 Jahren gibt es den offenen Freizeittreff, eigentlich ein gut besuchter Ort für Kinder und Jugendliche mit vielen Freizeitangeboten. Es wird zum Beispiel gemeinsam gekocht und Sport gemacht. Die offene Jugendarbeit lebt davon, dass sie, wie der Name schon sagt, offen für alle ist, was für Mitarbeitende oft eine Herausforderung darstellt. Sie sollen nicht nur Freizeitangebote schaffen, sondern sind oft auch erste Ansprechperson bei Problemen und müssen sich mit Themen wie Armut und Gewalt auseinandersetzen. »Natürlich wird man auch in anderen Jugendeinrichtungen mit Problemen konfrontiert, aber in Sellerhausen war es schon krass. Im letzten Sommer waren wir mit mehreren Vorfällen sexualisierter Gewalt konfrontiert, die zwar außerhalb des Treffs stattgefunden haben, aber von unserer Seite viel Aufarbeitung und Begleitungsarbeit erfordert haben, da Besucher:innen des Treffs betroffen waren. Und dann kommen noch die ›normalen Probleme‹ dazu«, heißt es aus dem Kreis ehemaliger Mitarbeitenden. Im OFT Sellerhausen bedeutet das: Vandalismus, Kleinkriminalität und irgendwann auch Gewalt gegenüber den Mitarbeitenden.

Diese möchten für den Text anonym bleiben. Denn die Entwicklung sei irgendwann absehbar gewesen, aber das Team fühlte sich vom Internationalen Bund (IB), dem Einrichtungsträger nicht unterstützt. Immer wieder hätten sie auf die angespannte Lage und die besonderen Herausforderungen im Treff hingewiesen, konkrete Hilfsangebote und konzeptionelle Veränderungen hätte es aus Sicht der ehemaligen Mitarbeitenden aber zu wenig gegeben. Auch von der Stadt Leipzig hätte sich das ehemalige Team mehr Unterstützung gewünscht. Zum Beispiel in Form einer Gebäudesanierung oder auch einer Einfriedung des Geländes, um es deutlicher als Jugendtreff zu kennzeichnen. Das ist nicht passiert. Auf kreuzer-Nachfrage teilte die Stadt mit, dass Zäune dem Konzept der offenen Jugendarbeit widersprächen.

Kaputte Wasserleitungen, ein undichtes Dach und Rolläden, die nicht funktionieren.

Diese Maßnahme hätte die Situation laut den Mitarbeitenden entschärfen können. Denn die offene Lage des Freizeittreffs lädt nicht nur Kinder und Jugendliche ein: »Das ganze Setting hat dazu geführt, dass sich da ständig Leute getroffen haben. Egal, ob der Club offen hatte oder nicht.«, berichtet eine Person aus dem ehemaligen Team. Was erstmal nicht dramatisch klingt, hätte gerade während der langen Lockdownzeiten dazu geführt, dass der Jugendclub immer mehr ein Treffpunkt für das ganze Viertel wurde, mit allen folgenden Problemen: Müll, Vandalismus, Drogenkonsum und Einbrüchen in das Gebäude. Im Frühjahr 2021 den geregelten offenen Betrieb wieder aufzunehmen, sich das Gelände quasi zurückzuerobern, sei schwierig gewesen.

Auch das Gebäude selbst stellte die Mitarbeitenden vor Probleme: die Wasserleitungen hätten sich im Sommer so sehr aufgeheizt, dass nur noch warmes, braunes Wasser aus dem Hahn gekommen sei. Das Dach sei undicht, die Rollläden funktionierten nicht. Trotz zahlreicher Einbrüche sei das Gebäude weiterhin nur unzureichend abgesichert worden. Die Folge: permanent seien Materialien entwendet und Einrichtung zerstört worden. Die Stadt Leipzig, der das Gebäude gehört und die damit für die Instandhaltung zuständig ist, schreibt dazu im August 2022, dass kurzfristige Reparaturen inzwischen beauftragt seien, eine umfassende Sanierung derzeit mit Hinblick auf Fördermittelmöglichkeiten geprüft werde. Auch die Sicherheit des Gebäudes sei durch eine Einbruchmeldeanlage und eine zusätzliche Kontrollrunde eines Sicherheitsdienstes gewährleistet.

Offene Kinder- und Jugendarbeit ist eine Leistung, die in Sachsen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB VIII) in den Aufgabenbereich der Kommunen fällt. In Leipzig betrugen die Ausgaben 2021 dafür rund 5,6 Millionen Euro, die derzeit 38 Jugendtreffs werden von Trägern geführt, die von der Stadt zu hundert Prozent finanziert werden. Das Ziel der Arbeit ist es, Alternativen zum häuslichen Umfeld und einen neuen Lernort neben Schule und Zuhause zu schaffen. Dass es dabei immer wieder zu herausfordernden Situationen komme, sei inzwischen normal, heißt es vonseiten der Stadt. Die Anforderungen an den sozialen Beruf hätten sich in den letzten Jahren stark verändert. Mitarbeitende müssten sich mit vielschichtigen Problemen befassen und verstärkt Einzelfallhilfe und Beratung anbieten. Das Amt für Jugend und Familie weist in Zusammenhang mit dem OFT Sellerhausen auch darauf hin, dass Delinquenz und das Austesten von Grenzen zum Erwachsenwerden dazugehörten.

Eingangstür Club Sellerhausen
Foto: Michael Hertz

Die Häufigkeit der Extremfälle sei jedoch in Sellerhausen besonders hoch gewesen, berichten die Mitarbeitende, die auch andere Standort in Leipzig kennen, eine Person beschreibt es so: »Es kommen oft Kids, die es zuhause nicht aushalten. Das konnte man im letzten Jahr auch gut beobachten. Wenn du nur einzelne Kids hast, die an der Grenze sind, die so wenig klarkommen und dann so viel Gewalt und Bedrohung mit in die Umgebung tragen, dann beeinflusst das die ganze Dynamik von so einer Gruppe.« Mit herkömmlicher Sozialarbeit seien die Aufgaben kaum noch zu stemmen gewesen, für viele Kinder und Jugendlichen seien die Mitarbeitenden im OFT die einzige erwachsene Ansprechperson gewesen. »Das führt zu der Absurdität, dass dir Kids manchmal – vielleicht auch bewusst – nebenbei die finstersten Gewaltgeschichten aus der Familie erzählen, während du mit zehn anderen Kids am Kochen bist und gar nicht adäquat drauf eingehen kannst«, heißt es aus dem ehemaligen Team. Viel Arbeitszeit sei darauf verwendet worden, die Kinder und Jugendlichen weiterzuvermitteln: an Beratungsstellen, die konkreter auf den Einzelfallbedarf eingehen können.

Auch dem IB, der damalige Träger des Freizeittreffs ist die schwierige Lage in Sellerhausen bewusst. Katrin Hoffmann, Bereichsleiterin für soziale Arbeit und Berufliche Bildung beim IB sagt dazu: »Als sozialer Träger empfinden wir sowohl gegenüber den Kindern und Jugendlichen als auch den Mitarbeitenden eine große Verantwortung und nehmen sie sehr ernst. Nach interner Prüfung der Situation sowie Abstimmung mit dem Jugendamt wurde seinerzeit intensiv darüber diskutiert, wie eine Lösung aussehen könnte, um unter Berücksichtigung der Sicherheit aller Beteiligten weiterhin Angebote für die Zielgruppe vorhalten zu können. Diese Maßnahmen wurden dann auch umgesetzt.«

»Wir haben uns nicht mehr sicher gefühlt«

Zu der Belastung durch die Arbeit kommt es ab dem Frühjahr 2021 zusätzlich vermehrt zu Auseinandersetzungen mit den Besuchern des OFTs, aber auch mit Menschen aus dem Viertel. Die Mitarbeitenden berichten von gewaltbereiten Familienangehörigen, die zu Konflikten im OFT gerufen wurden und irgendwann auch Drohungen gegenüber den Mitarbeitenden selbst. Die Sozialarbeiter versuchen zu vermitteln, kommen aber zunehmend an ihre Grenzen. Die meisten Probleme gibt es mit einer Gruppe, die erst nur lose Verbindungen zum OFT hat, dann aber immer häufiger vor Ort ist, andere Besucher bestiehlt und bedroht. Jüngere Kinder trauen sich irgendwann kaum noch, den OFT zu besuchen, auch ein ausgesprochenes Hausverbot gegen Mitglieder der Gruppe hilft nicht. »Es war ein Katz-und-Mausspiel mit der Polizei. Die wussten ja schon, wenn wir reingehen und telefonieren, dass sie einfach nur in die Kleingartensiedlung abhauen müssen, dann findet sie keiner mehr.«, schildert ein ehemaliges Teammitglied. Die Arbeit mit dem zuständigen Bürgerpolizisten sei respektvoll, aber wirkungslos geblieben, vereinzelt sei das Auftreten der Polizei jedoch eher eskalierend gewesen, die Mitarbeitenden seien sogar beschuldigt worden, die Jugendlichen vor der Strafverfolgung zu schützen.

Vor allem ein Jugendlicher provoziert immer weiter. Im September 2021 eskaliert die Situation dann, er greift einen Mitarbeitenden an. Danach wird der Jugendclub erstmal geschlossen. »Wir haben uns nicht mehr sicher gefühlt, aber es gab keine sichtbaren Bemühungen, irgendetwas am Konzept zu verändern.«, berichten mehrere ehemalige Mitarbeitenden. Nach dem Vorfall seien sie aufgefordert worden, den OFT zeitnah ohne konzeptionelle Veränderung und tragfähige Unterstützung im Bereich Sicherheit wieder zu öffnen. Die Mitarbeitenden wollen aber aus Angst vor einer weiteren Eskalation und aus Resignation, weil sich nichts ändert, nicht mehr in Sellerhausen arbeiten und lassen sich trägerintern versetzen. Der OFT wird jetzt auf unbestimmte Zeit geschlossen.

Durch Vernetzung mit anderen Organisationen und einer engen Zusammenarbeit mit dem Jugendamt der Stadt Leipzig sei versucht worden, den zunehmenden Herausforderungen am Jugendtreff entgegenzuwirken, berichtet Katrin Hoffmann vom IB. Am Ende habe auch der Umstand, dass nicht ausreichend Fachkräfte gewonnen werden konnten, dazu beigetragen, dass die Arbeit im Jugendtreff nicht wieder aufgenommen werden konnte und der IB sich als Träger aus Sellerhausen zurückzieht. 

Nun kommt das Streetworkmobil und das Spielmobil der Stadt wöchentlich zum Jugendtreff, um trotzdem einen Anlaufpunkt für die Jugendlichen zu schaffen. Die Stadt schreibt auf Anfrage, dass den jungen Menschen außerdem Kinder- und Jugendeinrichtungen in Schönefeld-Ost, Schönefeld-Abtnaundorf und Paunsdorf zur Verfügung stehen.

In dieser komplexen Geschichte gibt es nicht das eine Problem, den einen Verantwortlichen. 

Doch was sagen die Jugendlichen selbst dazu, um die es bei der Arbeit hauptsächlich geht? Sind andere Treffs eine gute Übergangslösung? »Das kommt nicht in Frage. Hier ist unser Gebiet, wir sind immer hier«. Tobias (17), Manuel (17) und Paul (18) kommen immer noch zum OFT, an einem Nachmittag im Frühsommer sitzen sie auf den Treppen vor dem OFT, rauchen, spielen Basketball. Sie sind sichtbar enttäuscht, dass der Treff geschlossen hat. Klar wüssten sie, was passiert sei, sie seien ja dabei gewesen. »Hier ist viel Scheiße passiert«, sagt Tobias. »Das ging etwa ein Jahr. Die hatten echt viel Geduld«, erzählt Paul, er meint die Mitarbeitenden. Der Treff war für die Jungs ihr »Chillout«-Bereich, sie seien fast jeden Tag hier gewesen. Und dann hätte der Treff von einem auf den anderen Tag zugemacht, immer noch ist viel Unverständnis darüber bei den Jungen zu spüren.

»Haben sie auch erzählt, dass sie mitverantwortlich sind, dass der Treff zu hat?«, fragen die ehemaligen Mitarbeitenden des Treffs einige Tage später. Denn auch diese Wahrheit gehört zu der komplexen Geschichte: Die Jugendlichen, die jetzt traurig über den geschlossenen Treff sind, hätten teilweise zu der Gruppe gehört, die für die Eskalation verantwortlich gewesen sei.

Was braucht es, damit der OFT Sellerhausen wieder ein geschützter Ort für Kinder und Jugendliche wird?

Allgemein mehr Geld für ausgebildete Fachkräfte, wünscht sich Hoffmann, um auf die komplexen Probleme der Kinder- und Jugendlichen adäquat eingehen zu können.
»Wir haben uns immer vorgestellt, diesen Ort anders, interdisziplinärer und soziokultureller zu denken. Zu öffnen für die Bedarfe des Stadtteils, die sich weit über die offene Kinder- und Jugendarbeit hinausstrecken.«, heißt es aus dem Kreis der ehemaligen Mitarbeitenden. »Wir wollen einfach, dass der Treff wieder aufmacht«, sagen die Jugendlichen vor dem OFT Sellerhausen und wenden sich dann wieder dem Basketball und den Zigaretten zu.

Ab 1. Oktober soll die Kindervereinigung Leipzig den Treff als neuer Träger wieder eröffnen, die Stadt plant eine stärkere Anbindung an Akteure aus Kultur, Nachbarschaft und Gemeinwesen am Standort.


Foto: Michael Hertz.


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1 Kommentar(e)

Bati 27.08.2022 | um 21:29 Uhr

Schwach. Ganz schwach. Selbst die Helfer sind den Anforderungen nicht mehr gewachsen. Wo soll das hinführen? Um mehr Mittel verfügbar zu machen, braucht es vielleicht mehr UA’s, kürzlich konnte die Stadt L ein immens überteuertes Grundstück für einige Millionen zurück kaufen. Bringt so etwas jmd in Zusammenhang?