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Kultur

»Mich interessieren Körper, die durch etwas durchgehen«

Choreografin Patricia Carolin Mai über Berührungspunkte und Tanzvermittlung

  »Mich interessieren Körper, die durch etwas durchgehen« | Choreografin Patricia Carolin Mai über Berührungspunkte und Tanzvermittlung

Durch Zufall – oder beabsichtigte Nähe – fand Patricia Carolin Mai zum Leipziger Tanztheater (LTT). Ein Jahr wirkte die Hamburgerin dort als Gastchoreografin und erarbeitete mit der Company eine neue Produktion. Und auch im Lofft bringt sie Menschen mit Bewegungsleidenschaft zusammen.

Sie bespielen gleich zwei Orte in Leipzig – wie kam es dazu?

Menschen über Menschen liefen im Foyer an mir vorbei, als ich wegen einer früheren Produktion im Lofft war. Da waren Dreijährige mit ihren Eltern, Jugendliche spazierten hinein. Ich fragte mich, wo die alle hinwollen und bin ihnen den Gang hinterher. So bin ich aufs LTT gekommen und habe mich gleich beworben, weil generationsübergreifendes Arbeiten meine Leidenschaft ist.

Dann hat sich die gezielte räumliche Nähe beider Institutionen ja ausgezahlt. Haben Sie sich mit einem fertigen Konzept beworben?

Es wurde eine Gastchoreografin für ein Jahr gesucht, die die Company leitet. Ich habe letzten Oktober eine Probeklasse gegeben und meine Zutaten, die Bewegungssprache und den Ansatz, mit vielen Menschen generationsübergreifend zu arbeiten, vorgestellt. In »Or« fragte ich zusammen mit der Company, worin das Verhältnis dieser Gruppe zu den verschiedenen Persönlichkeiten, Individualitäten, Stimmen und Sprachen besteht. In diesem Fall sind es 16 Menschen. Mich interessiert, was die Einzelne in der Gruppe bewegt und was die Gruppe im Einzelnen bewegt; auf der Bühne und im alltäglichen Zusammenkommen. Das Konzept wurde dann in einer demokratischen Entscheidung im Haus, auch durchs Ensemble, angenommen.

Wie haben Sie zusammengearbeitet, um das Besondere im Allgemeinen herauszukitzeln?

Die Gruppe besteht zum Teil schon sehr lange, daher war meine erste Frage: Warum bist du hier? Die ist unterschiedlich beantwortet worden. Für die einen ist es schon immer, seit der Purzelgruppe ein Ort der Gemeinschaft. Andere sind zum Studieren in die Stadt gekommen, wollen einfach nur tanzen. Und dann wollte ich die Einzelnen in ihren Bewegungen kennenlernen. Was sind ihre Lieblingsbewegungen, sind sie gern am Boden, springen sie, drehen sie sich? Ich habe mit ihnen jeweils ein Solo erarbeitet und dieses Solimaterial in die Gruppe gegeben. Daraus habe ich keine feste Choreografie gebaut. Jeder kann entscheiden, wie lange er wo im Raum ist und welche Bewegung er nachmacht oder vorgibt. Daraus entsteht ein Geflecht, jeder Abend ist anders. Es bildet sich ein Gemeinsames durch die Einzelnen.

Sie interessieren sich auch für Bewegungen jenseits dessen, was man gemeinhin Tanz nennt?

Meine Bewegungen sehen nie nur schön aus. Sie sind nicht erfunden, sondern kommen immer irgendwoher. Ich habe ein Format entwickelt, das bewegte Interview, bei dem ich eine Frage stelle und die Menschen körperlich antworten. Mich interessieren Körper, die durch etwas durch-
gehen. Ich habe eine Zeitlang in Israel gelebt und dort einen Terroranschlag erlebt. Ich hatte nicht damit gerechnet, wie lange mich der beschäftigte. Das interessierte mich, aber ich wollte nicht in mir selbst rumlullen, sondern befragte andere, was sie aus ihrer Extremsituation leiblich erinnern und wie sie das zeigen. In Hamburg schilderte mir ein Flieger aus dem Zweiten Weltkrieg, wie er aus dem Flugzeug kletterte. Wenn Sie sich vorstellen, wie ein 96-jähriger Körper diesen Ablauf komplett zeigt, sieht man, wie stark Erinnerungen in Bewegungen stecken.

Im Stück, das Sie im Lofft zeigen, geht es um das Zusammenkommen – aber unter Pandemiebedingungen.

Genau. Vor allem interessiert mich diese kollektive Erinnerung, wie wir vorher als Gruppe zusammen waren. Was ist dieser einzelne, nach Berührung lechzende Körper? Was ist Berührung, was ist Tanz und was fehlt, wenn ich über Zoom unterrichte und die Körper nicht gemeinsam im Raum sind? Dem sind wir nachgegangen. Und haben gefragt, wie ich auf andere Menschen im ersten Moment zugehe, mit welcher Haltung und Geste ich anderen näherkomme. Und wie nehmen wir Situationen wie die Hochzeit der Pandemie wahr, in der all das nicht mehr möglich war?

Wie muss man sich das Setting vorstellen?

Wir bauen eine große Tischgesellschaft auf, so dass am Anfang nicht klar wird, wer wer ist. Die Tänzerinnen – zehn Hamburgerinnen und zwanzig Leipzigerinnen – treten in unterschiedlichen Konstellationen auf, eine Mutter-Kind-Beziehung ist darunter, ein gleichgeschlechtliches Paar. Die Menschen im Publikum können entscheiden, wie nah sie und wo sie im Raum sein möchten. Auch die Tänzerinnen können das entscheiden. Wo sind die Berührungspunkte, wo hören die auf, hören die überhaupt auf und brauche ich einen anderen Körper, um zu tanzen?

Tanzen ist ein elementares Ausdrucksmittel. »Lass uns tanzen gehen« ist normal. »Lass uns Tanz gucken gehen« weniger. Woher stammt diese Diskrepanz?

Schöne Frage, weil ich immer mein Publikum mitbedenke. Was bringt es ins Theater? Das ist der Punkt, den ich immer stark mache, wenn ich mit Häusern und Festivals zusammenarbeite. Viele Menschen haben Angst, dass sie es nicht verstehen, sie können sich unter zeitgenössischem Tanz nichts vorstellen. Ich versuche, sie das selbst erfahren zu lassen. Das Selbst-Ausleben ist Freude und Motivation. Ich möchte also gerade die Leute ansprechen, die zum Zuschauen kommen, die das nicht tagtäglich professionell machen, die aber auch eine Körpererfahrung haben. Ich will also nicht nur die Menschen bewegen, die einmal die Woche für die Produktionen zum Üben kommen, sondern die Zuschauer mitbewegen. Das ist mein größtes Kompliment, wenn sie sagen: »Ich hätte am liebsten mitgemacht« oder »Ich konnte mich gar nicht mehr auf dem Stuhl halten«. Wenn man so eine Intensität entfacht, habe ich mein Ziel erreicht, wenn sich der eigentlich passive Zuschauerkörper mitanspannt und mitgeht.

■ »Or«: 23.9., 20 Uhr (Premiere), 24.9., 20 Uhr, 25.9., 18 Uhr, Schaubühne

■ »Und so kamen wir zusammen«: 9.9., 20 Uhr (Premiere), 10.9., 20 Uhr, 11.9., 16 Uhr, Lofft

Foto: BAKI


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