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Stadtleben

»Denken ist immer systemrelevant«

Organisator Rainer Totzke über die erste Ausgabe des Philosophie-Festivals Leipzig denkt

  »Denken ist immer systemrelevant« | Organisator Rainer Totzke über die erste Ausgabe des Philosophie-Festivals Leipzig denkt

Seit gestern wird an unterschiedlichen Orten in Leipzig ausgiebig philosophiert. Das Festival Leipzig denkt will Räume schaffen, um über die Krisen unserer Zeit nachzudenken, zu diskutieren und zu streiten. Wir haben mit Organisator Rainer Totzke gesprochen. Mitorganisator Jirko Krauß, der ebenfalls dabei sein sollte, wurde in der Nacht vorm Gesprächstermin Vater – einer der ganz wenigen guten Gründe, ein kreuzer-Interview sausen zu lassen. Glückwunsch, und los:

Wie kam es zur Festivalidee?

Ich bin schon einige Jahre im Vorstand des Vereins Expedition Philosophie, durch den ich gemeinsam mit anderen ab 2011 das Soundcheck-Philosophie-Festival veranstaltet habe. Bei der letzten Ausgabe 2019 habe ich dann Jirko kennengelernt. Wir haben beide gemerkt, dass wir an der Frage interessiert sind, wie sich eine Gesprächschoreografie für die Philosophie entwickeln lässt, die nicht von unnötigen Wissenshierarchien oder akademischem Habitus überlagert wird. 

Vor dem Hintergrund von Pandemie und Krieg in der Ukraine: Ist Philosophie systemrelevant?

Für viele Menschen war und ist die Pandemie eine schreckliche Zeit. Was wir aber auch nicht vergessen dürfen, ist die Tatsache, dass sie viele Prozesse entschleunigt hat, die in unserer Gesellschaft auf Hochtouren liefen und die dementsprechend auch nicht hinterfragt wurden. Die Pandemie hat uns eher gezeigt, dass wir uns von dem instrumentellen Denken des Kapitalismus entfernen müssen, um die Krisen unserer Zeit zu bewältigen. Denken ist immer systemrelevant und gerade in der derzeitigen Situation ist es umso entscheidender. Weshalb unser Festival auch den Untertitel »Alarm und Utopie« trägt. Die Philosophin Hannah Arendt meinte einmal, dass es ein Innehalten braucht statt des ständigen Produzierens. Ohne gründliches Nachdenken gehen wir vielleicht sehenden Auges in die falsche Richtung.

Ist denn aber nicht gerade philosophisches Denken das Gegenteil von Handeln? 

Ich glaube, dass es ein Handeln braucht, das vom Denken begleitet wird. Was könnten wir besser gebrauchen in einer Zeit ökologischer Krisen, als zu wissen, was richtig, was falsch und vor allem, was zu tun ist? Für mich bedeutet Philosophie, einen riesigen Horizont an Perspektiven einzunehmen, durchzugehen und mit anderen zu besprechen. Durch diese Perspektivübernahme, durch eine teilnehmende praktische Philosophie, durch Erfahrungen anderer Einstellungen und Lebensumstände lernen wir, besser zu urteilen. Das kann wiederum eine Anleitung für unser Handeln sein. Und das geht eben nicht allein, sondern entsteht nur im Austausch mit den Gedanken anderer.

Und doch ist unsere Vorstellung von einem philosophischen Seminar die eines meist weißen, männlichen Intellektuellen, der seine Gedanken einer Schar stiller Jünger vorträgt. 

Genau solche Konzepte versuchen wir aufzubrechen. Dafür haben wir das Theater der Versammlung/Zentrum für Performance-Studies der Uni Bremen eingeladen. Seit Jahren machen die sich Gedanken, wie sich wissenschaftliche Disziplinen untereinander, interdisziplinär wahrnehmen können. Was können wir voneinander lernen, wie können wir Gräben überbrücken und eine Gesprächskultur herausbilden, die alle einbindet? Das Theater der Versammlung hat dafür zusammen mit uns einen ganzen Werkzeugkasten entwickelt, der uns beim Festival hilft, das Publikum in die Entwicklung philosophischer Gedanken miteinzubeziehen.

Lassen sich komplexe philosophische Themen an einem Abend denn angemessen bearbeiten?  

Das ist gewissermaßen unsere Fahrt zwischen Skylla und Charybdis aus Homers »Odyssee«: Auf der einen Seite wollen wir komplexe Themen nicht allzu sehr vereinfachen, auf der anderen sollen komplexe Gedanken erfahrbar und nachvollziehbar aufgearbeitet werden. Bestimmte Festivalangebote könnte man sicher dem »Edutainment« zuordnen, was das Spielerische unserer Herangehensweise hervorhebt. Die Abendveranstaltungen im Lofft und in der Schaubühne arbeiten viel mit Ideen und Methoden aus dem Theater. Im Budde-Haus wird es Diskussionsformate in Salonform geben. Der »Utopie-Slam« ist natürlich an Unterhaltungsformate der Wissensvermittlung angelehnt. Die »Streetphilosophy« auch, hier gehen Philosophie-Studierende auf Passanten auf der Straße zu. Wir möchten so viele Menschen wie möglich einladen, sich mit Philosophie zu befassen.

Neben dem Buchmesse-Slogan »Leipzig liest« scheint »Leipzig denkt« ein ebenso großes Format zu versprechen. Wird die Buchstadt Leipzig nun auch zu einer Denkstadt?

Das wäre ein geheimer Wunsch unsererseits und ist natürlich auch der Grund, warum wir diesen Titel gewählt haben. Wir tragen Philosophie in kulturelle Räume, aber auch in den Stadtraum und auf die Straßen. Wir knüpfen an die antike Philosophie an und schaffen einen realen Marktplatz, auf dem Menschen sich philosophisch austauschen können. Und das ohne Ausschlüsse und ohne Einschränkungen. Widerstreitende Positionen sollen möglichst aus ihrer jeweiligen Bubble herauskommen und sich mit dem Gegenüber konfrontieren. Das kann auch nach hinten losgehen. Unser Festival ist eben dafür ein großes Experiment.

■ Leipzig denkt, 5.–8.10., verschiedene Orte, www.leipzig-denkt.de
■ Highlights: Utopische Festivaleröffnung, 5.10., 19 Uhr, Paulinum; Interaktives Gespräch »Plural, patent, postmigrantisch? Utopien für die Einwanderungsgesellschaft«, 6.10., 19 Uhr, Zeitgeschichtliches Forum; Lange Nacht der Utopien zum Festivalabschluss, 8.10., 19 Uhr, Moritzbastei

Auf dem Foto: Jirko Krauß und Rainer Totzke; Foto von Christine Gundlach


Transparenzhinweis: Unser Autor Tobias Prüwer war im vergangenen Jahr an einer ersten Konzeption des Festivals beteiligt und wird Teil der Veranstaltung »Gesellschaftliche Zerrissenheit, Widerstreit und Bubble-Gymnastiken« sein (7.10., 19 Uhr, Schaubühne Lindenfels).


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