Ein Gespenst geht um: der Publikumsschwund. Corona setzt die Kulturbranche weiterhin unter Druck. Ein Teil der Gäste bleibt aus, schwache Vorverkäufe erschweren Planungen. Neben schwindender Auslastung sorgen Überangebot, Inflation und Kostenexplosionen für eine prekäre Lage.
Vielfalt bestimmt Leipzigs Kulturlandschaft. Ein Problem aber eint alle Akteurinnen und Akteure: Publikumsschwund. Egal, welche Kulturschaffenden der kreuzer befragte, alle hatten mit dem Rückgang der Gästezahlen zu kämpfen, auch wenn die jeweilige Dimension unterschiedlich ausfällt. Viele haben immerhin den Sommer als relativ erfolgreich verbucht. Doch schon da wurden Probleme sichtbar, täuschten die Fülle an Veranstaltungsplakaten und volle Programmkalender über die Lage hinweg: Vorverkäufe sind eingebrochen, machen Planungen schwer möglich. Diese Kurzentschlossenheit des Publikums hält an.
»Es ist wie eine bleierne Zeit«, beschreibt Academixer-Geschäftsführerin Dörte-Solveig Waurick die Stimmung. »Wir haben ein sehr treues Publikum«, sagt Peter Matzke, der den Krystallpalast leitet, »aber es kommen zwanzig Prozent gar nicht mehr, weil sie aus Angst, sich anzustecken, die Öffentlichkeit meiden.« In allen Sparten zeigt sich, dass vor allem die Älteren ausbleiben. »Wir stellen fest, dass ein jüngeres Publikum weiterhin gerne ins Kino geht. Die sind bei ihrer Filmauswahl experimentierfreudiger«, so Kristin Klemann. Doch kompensieren kann das die Zuschauerlücke bei ihr in den Passage-Kinos nicht. Zumal die Herbst- und Wintermonate traditionell die Kinohauptsaison ausmachen. Während der Oktober 2019 mit über 25.000 Besucherinnen und Besuchern der stärkste Monat in den vergangenen Jahren in den Passage-Kinos war, ist Klemann derzeit froh, wenn das Kino im Monat zumindest fünfstellige Besucherzahlen erzielt. »Die fetten Jahre sind vorbei.«
Felsenkeller-Betreiber Jörg Folta erklärt, dass alle Veranstalter über katastrophale Vorverkäufe klagen. Sein Haus verkauft beispielsweise für eine Veranstaltung mit einer Kapazität von 1.200 Besucherinnen und Besuchern vorab nur 80 Karten. Das führe zu Absagen gerade in der Herbst-Winter-Saison, die im Felsenkeller rund 70 Prozent des Jahresumsatzes ausmacht. Auch am Schauspiel Leipzig spricht man von »viel Bewegung an der Abendkasse«, so Pressesprecherin Sarah Schramm. »Ein wesentlich kurzfristigerer Kartenkauf lässt sich beobachten. Der Theaterbesuch ist spontaner geworden. Das macht Prognosen schwer.« Auch coronabedingt reduzierte Kapazitäten erhöhen den finanziellen Druck.
Ein geballtes Kulturprogramm trifft auf ein verändertes und verunsichertes Publikum. Viele aufgeschobene Veranstaltungen fanden nun gleichzeitig statt. Aus Angst vor möglichen Lockdowns im Winter wurden Termine früher ins Jahr verlegt. Mit dieser Art Überangebot nahmen sich die Veranstalter auch gegenseitig Publikum weg. Da bei vielen Menschen noch Tickets von verschobenen Veranstaltungen an Kühlschrank oder Pinnwand hängen, für die sie auf Nachholtermine warten, sind sie zögerlich beim Erwerb neuer Karten für langfristige Zeiträume. Die Angst vor einem möglichen Ausfall erhöht allerdings die Chance einer Absage, weil sie die Kalkulation erschwert. Auf »Mut und Verständnis« beim Publikum hofft daher Antje Hamel, Pressesprecherin des Werk 2. »Das Veranstaltungsbusiness ist ein Kreislauf: Fehlende Vorverkäufe machen die Produktion nicht kalkulierbar, Bands und Agenturen sagen ab, weil sie dieses hohe Risiko nicht tragen können, Veranstaltungshäuser bleiben leer und können kurzfristig nicht agieren, Personal wird abgesagt.«
Auch ist eine gewisse Entwöhnung spürbar. Die Menschen haben in den vergangenen beiden Jahren immer wieder auf Kulturangebote verzichten müssen – und das zum Beispiel mit Streamingdiensten kompensiert. Diese Leute müsse man wieder für sich interessieren, glauben die meisten Befragten. Ebenfalls müsse Vertrauen zurückgewonnen werden, auch wenn die Veranstalter das selbst nicht verspielt haben. Ein Hin und Her bei den Pandemie-Schutzmaßnahmen machen einige für das verunsicherte Publikum verantwortlich.
»Nicht zuletzt sagen viele Gäste ab, weil sie gerade selbst krank oder in Quarantäne sind«, sagt Carmen Lux vom Haus des Buches. Denn die Pandemie ist nicht vorbei, auch wenn gerade der Sommer anderes suggerierte. »Wir gehen davon aus, dass staatlich erzwungene Schließungen von Clubs politisch momentan nicht tragbar und daher auch nicht gewollt sind«, erklärt Jörg Kosinski vom Livekommbinat. »Zurückblickend auf mehr als zwei Jahre Coronapolitik in Sachsen bleibt aber der leise Zweifel, ob bei stark ansteigenden Infektions- und Krankenhausbelegungszahlen es nicht doch kurzfristig zu Maßnahmen wie Mund-Nasen-Schutz-Pflicht in Innenräumen kommen könnte. Eine solche Pflicht wieder einzuführen, würde praktisch zu erneuten – womöglich finalen – Schließungen führen.«
Mitarbeit: Luca Glenzer, Benjamin Heine, Anja Kleinmichel, Martina Lisa, Jan Müller, Britt Schlehahn, Lars Tunçay.
Titelfoto: Ralf Donis. Copyright: Christiane Gundlach.