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Kultur

Wie tanzt man Protest?

Vom 8.-13. November findet das euro-scene-Festival statt. So war der Auftakt.

  Wie tanzt man Protest? | Vom 8.-13. November findet das euro-scene-Festival statt. So war der Auftakt.

Der Auftakt der euro-scene schreit Revolution. Mit seinem Stück »Any Attempt Will End In Crushed Bodies And Shattered Bones« zeichnet der belgische Choreograph Jan Martens Momentaufnahmen des Protests. Im Schauspielhaus zeigt er die Wut der Einzelnen und die Kraft der Vielen.

Der gewaltstrotzende Titel des Werks ist eine Warnung des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping. Sie gilt denjenigen, die sich um eine vermeintliche Teilung der Volksrepublik Chinas bemühen, abgegeben zu Zeiten der Demokratie-Demonstrationen in Hongkong 2019. Eine Nachstellung real-politischer Ereignisse ist in Martens Werk nicht zu sehen, der Choreograph liefert vielmehr Phasen des Protests. So beginnt die Aufführung im Schauspielhaus mit der inneren Agitation der Einzelnen: Zu den drohenden Klängen eines Cembalo-Konzerts von Henryk Mikołaj Górecki tanzen die Tänzerinnen unabhängig voneinander. Sie schlagen in die Luft, wirken gedrungen, zeigen in repetitiven Bewegungen Wut und Erschöpfung. Es ist ein Sinnbild des Nährbodens jeden Protests, es ist die wiederkehrende Frustration, die die nachfolgenden Kämpfe antreibt.

Etwas später findet das Ensemble zusammen: Eine Person läuft im großen Kreis auf der Bühne, andere schließen sich an, dazu eine vorgelesene Dystopie voller Gewalt, Feindbilder und Panik. Der Moment bedrückt, denn die Parolen gleichen den Sprüchen der Populisten dieser Welt. Gegen diese laufen die Tänzerinnen an: In raffinierten Mustern gehen Gruppen aufeinander zu und durch andere hindurch. Einzelnen Mitglieder brechen aus, wechseln die Gruppe, um doch wieder ihre Position im Gleichschritt zu finden. Der Tanz gleicht einer optischen Illusion und ist erneut Sinnbild realen Protests. Er zeigt die wütende Menge, die nicht immer in die gleiche Richtung läuft, nicht immer die gleiche Meinung teilt, und doch als Ganzes fungiert.

Der bedrückendste Moment des Abends kommt, als nicht getanzt wird. Auf der Wand hinter dem Ensemble werden Sätze projiziert, die sich wie fremden- und frauenfeindliche Hass-Kommentare lesen. Dazu liegen die männlichen Tänzer wie erschlagen auf dem Bühnenboden, die weiblichen Tänzerinnen stehen und sitzen und schauen in das Publikum hinein. Der Moment dauert an, die Zuschauenden sind gezwungen den Schmerz zu ertragen. Auch das ist Protest.

Nach der Veranstaltung lädt ein Empfang der Vertretung von Flandern in Deutschland zur offiziellen Eröffnung der 32. euro-scene Leipzig. In der Eröffnungsrede widmet Festivaldirektor Christian Watty den Abend den unterdrückten Frauen im Iran, in der Ukraine, in Belarus und Russland und dankt Choreograph Jan Martens. Der Generaldelegierte von Flandern, Nic Van der Marliere, betont die intensiven Beziehungen zwischen Sachsen und Flandern und erklärt Martens zu einem »großen Botschafter des modernen Tanzes« seines Landes. Für Skadi Jennicke, Kulturbürgermeisterin der Stadt Leipzig, zeigt das Stück, »mit welcher Haltung und Kraft Tanz auftreten kann«. Sie lobt die Uraufführungen und außer-europäischen Produktionen des diesjährigen Festivals, die Neuerungen, die mit Watty als Festivalleitung einhergehen. Lob für das Festivalprogramm gibt es auch von Markus Franke, Abteilungsleiter Kunst am Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft, Kultur und Tourismus: Watty zeichne für ihn »Linien aus der Welt nach Leipzig«. Aus dem Werk Martens erhofft sich Franke Anregungen für hiesige Debatten.

Die euro-scene Leipzig findet noch bis zum 13.November statt. Mit einem breiten Programm aus Neuem Zirkus, Perfomance, Diskussion und Tanz verhandelt das Festival eine Vielzahl an gesellschaftlichen Thematiken. Ein besonderer Fokus liegt in diesem Jahr auf außereuropäischen und postkolonialen Perspektiven. Auch die kritische Themenwahl eines Tanzfestivals kann ein Akt des Protests sein.


Titelfoto: Szene aus »Any attempt will be end in crushed bodies and shattered bones«. Copyright: Phile Deprez.


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