Fritsche leitet den Lehrstuhl für Sozialpsychologie der Uni Leipzig. Mit seinem Team erforscht er die grundlegenden Prozesse kollektiven Denkens und Handelns und wendet sie auf die Erklärung und Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen an. Mit dem kreuzer sprach er über Angst, Kultur und seine Abendplanungen.
kreuzer: Seit Anbeginn der Zeit begleitet sie uns: Ist die Angst ein guter Ratgeber?
Immo Fritsche: Furcht vor einer akuten Gefahr ist sehr hilfreich, da sie Menschen in Sekundenschnelle darauf vorbereitet, entweder zu fliehen oder die Gefahr aus dem Weg zu räumen. Angst entsteht jedoch häufig dann, wenn Menschen Situationen antizipieren, in denen sie wichtige Bedürfnisse, wie beispielsweise jene nach Sicherheit oder Kontrolle nicht werden befriedigen können und sie sich daher bedroht fühlen. Also beispielsweise die Konfrontation mit persönlicher Hilflosigkeit vor dem Hintergrund globaler Krisen, wie Klimawandel, Artensterben oder Kriegsbedrohung. Wenn Menschen nicht die Wahrnehmung haben, mit diesen Bedrohungen fertig zu werden, können sie ihr seelisches Gleichgewicht mit Ablenkung oder Verleugnung der Bedrohungslage schützen. Dies führt dann allerdings selten zu zupackendem und problemorientierten Handeln, um gegen das eigentliche Problem anzugehen.
Welche Rolle spielen soziale Gruppen bei der Bewältigung von Angst?
Bei derartigen Bedrohungen, die eine einzelne Person nicht beseitigen kann, versuchen Menschen häufig, das Gefühl von Kontrolle und Handlungsfähigkeit durch kollektives Denken und Handeln wiederherzustellen oder aufrecht zu erhalten. Das zeigen beispielsweise unsere eigenen experimentellen Studien: Wenn Menschen an persönliche Hilflosigkeiten, beispielsweise im Kontext von Klimakrise, wirtschaftlichen Bedrohungen oder Terrorismus erinnert werden, identifizieren sie sich eher mit eigenen sozialen Gruppen, wie dem eigenen Land, dem eigenen Fußballverein oder einer sozialen Bewegung, insbesondere dann, wenn sie diese für handlungsfähig halten. Wir beobachten ebenfalls, dass bedrohte Personen sich eher konform mit den Normen einer eigenen wichtigen Gruppe verhalten und auch eher zum Handeln im Sinne kollektiver Ziele bereit sind, also beispielsweise zur Unterstützung einer eigenen Partei oder Bewegung. Das hilft Menschen, ihr Gefühl eigener Handlungsfähigkeit aufrecht zu erhalten. Gleichzeitig hat kollektives Handeln offenkundig das Potenzial, dass Menschen dadurch die großen kollektiven Krisen eben auch auf kollektive Weise und durch eigenes Tun angehen. Beispielsweise dadurch, dass Personen, die sich selbst als Teil der Umweltschutzbewegung verstehen ihr persönliches Klimaschutzhandeln intensivieren oder eher bereit sind, staatliche Verbote und Einschränkungen zu akzeptieren, um den Klimawandel in handhabbaren Grenzen zu halten.
Leben wir einer von Ängsten geprägten Zeit?
Seit Menschen in ihrer artgeschichtlichen Entwicklung damit begonnen haben, längerfristige Pläne zu machen und sich alternative Zukünfte vorzustellen, haben sie auch die Unsicherheiten und die Unkontrollierbarkeiten der Zukunft vor Augen. Deshalb sollten sich auch zahlreiche automatische psychische Abwehrmechanismen gegen diese Schreckensbilder entwickelt haben, wie beispielsweise der – in der Regel unbewusst ablaufende – Rückbezug auf das Kollektive oder eigene Gruppen unter dem Eindruck persönlicher und gemeinschaftlicher Krisen. Also zu der Frage: Ja, wir leben in einer potenziell von Ängsten geprägten Zeit. Allerdings, seit wir Menschen sind. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass aktuell nicht nur in unserem Land sehr viel über Varianten bedrohter Zukunft geredet, geschrieben und nachgedacht wird, die erschreckend gut vorstellbar sind, wie der freie Fall in den Abgrund der ökologischen Krisen oder die Eskalation im Krieg gegen die Autokraten. Daher häufen sich für Einzelne derzeit vermutlich die Anlässe, mit Gefühlen von Bedrohung umgehen zu müssen.
Wie wichtig ist das Kulturangebot für eine Gesellschaft, um mit Ängsten umzugehen?
Kultur kann hier vermutlich unterschiedliche Funktionen erfüllen. Zum einen Ablenkung: Krisen, über die wir am Revue-Abend nicht nachdenken, existieren dann subjektiv auch nicht. Allerdings kommen sie möglicherweise mit den Frühnachrichten im Radio zurück. Aber Kultur kann auch das Gefühl von Gemeinsamkeit und Verbindung mit Anderen stärken. Wenn wir uns offenkundig über dieselben Dinge empören, an den selben Stellen klatschen, dann kann das die Grundlage für handlungsfähige Gemeinschaft bilden. Und das kann Menschen aus persönlichen Hilflosigkeiten heraushelfen.
Coronakrise, Energiekrise, Ukrainekrieg – Welches kulturelle Angebot hilft Ihnen, um auf bessere Gedanken zu kommen?
Mein Gewandhaus-Abo ist endlich wieder angelaufen. Nach drei Jahren Corona-Pause. Sehr zivilisiert. Zukünftig gern auch gemeinschaftlich bei 19 Grad im Winterpullover.
Titelfoto: Immo Fritsche. Credits: Christian Hüller.