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Kultur

Vom Aufwachsen im Osten

Hendrik Bolz liest aus seinem Buch »Nullerjahre«

  Vom Aufwachsen im Osten | Hendrik Bolz liest aus seinem Buch »Nullerjahre«

»Ich bin ein furchtbarer Labersack«, entschuldigt sich Hendrik Bolz gleich zu Beginn der Lesung aus seinem Buch »Nullerjahre« im UT Connewitz. Deswegen werde der Abend nicht nur aus der Lesung bestehen. Stattdessen würde er auch einiges ergänzendes erzählen und mit seinem Gast Sebastian Krumbiegel von den Prinzen noch über dessen Erfahrung bezüglich des Aufwachsens im Osten sprechen, kündigt Bolz an.

Kurz stellt sich Bolz dem ausverkauften Saal vor. Er ist Teil des Hip-Hop-Duos »Zugezogen Maskulin« und habe nun ein Buch über seine Jugend in Stralsund geschrieben. Geboren wurde Bolz jedoch 1988 in Leipzig. Von Stralsund ging er 2008 nach Berlin. Der Einstieg ins Buch ist eine Fahrt nach Stralsund. Während seine mitreisenden Freunde begeistert sind von der Landschaft, merkt er, dass es in ihm brodelt. »Es hat sich angefühlt wie eine schlecht verheilte Wunde«, erklärt er. Deswegen entstand das Buch. In dem geht es viel um Gewalt und Drogen. Und ganz anders als in vielen Geschichten, seien er und seine Freunde nicht die Helden, »eher im Gegenteil«. Bereits nach diesen wenigen einleitenden Worten hängt ihm das Publikum gebannt an den Lippen. Eine erwartungsvolle Stille füllt den Raum.

Kaum hat er begonnen zu lesen, unterbricht er sich bereits selbst: »Wenn ich viel und schnell rede, verschlucke ich Luft und muss immer rülpsen. Das wird heute noch häufiger passieren.« Alle lachen. Und tatsächlich legt er ein ziemliches Tempo beim Lesen vor. Besonders als er zu Passagen kommt, in denen seine Überholmanöver auf der Autobahn Richtung Stralsund geschildert werden, wird es – passend zur Thematik – fast zu schnell. »Blinken links, raus auf Überholspur, überholen, überholen, überholen, blinken rechts, einordnen, überholen lassen.« Verwunderlich, dass er nicht über seine eigenen Worte stolpert. Aber er ist geübt im Lesen.

Denn dies ist schon seine letzte Auswärtslesung, wie er es nennt. Er fragt in die Runde, ob jemand bei der Lesung in Dresden gewesen sei. Niemand reagiert. Dort habe er ein Kapitel über Masturbation vorgelesen. Was er nicht noch einmal machen würde. »Das war komisch«, stellt er fest. Das Publikum lacht. Stattdessen hat er sich für das darauffolgende Kapitel entschieden. In diesem geht es um Caro, die bereits ein paar Jahre älter war und von der er viel gelernt habe. Zum Beispiel, wie man klaut, raucht und richtig spuckt. Er macht eine kurze Pause und sagt: »Das wird jetzt das Highlight des Abends.« Dann stellt er sehr eindrücklich das gelernte Spucken nach. Erst tief Luft einsaugen, den Speichel im Mund sammeln und ausstoßen. Das alles sehr geräuschvoll.

Trotz des witzigen Vortrages ist die Geschichte bedrückend. Hendrik Bolz schildert den Wegzug Vieler aus den Plattenbauten, die Massenarbeitslosigkeit, die Überforderung der Polizei und das Desinteresse an der Jugend. Und so setzte sich immer mehr das Recht des Stärkeren durch. »Ihr kapiert’s nicht. Ohne Gewalt geht es nicht«, zitiert er aus dem Film »Grevesmühlen Straßengangs« und stimmt dieser Aussage zu. Für ihn und sein Umfeld war es uncool, Angst zu haben oder sogar zu heulen, sagt er. Es wurde gemobbt und geprügelt. »Selbst unter den besten Freunden ist man nie wirklich nett zueinander gewesen«, erinnert sich Bolz. »Gewalt und rechte Jugendkultur war normalisiert in unserer Kinderwelt.« Zu dieser Zeit sei es einfach normal gewesen, Neonazi zu sein. »Auch auf mich und meine Freunde hatten die Nazis Strahlkraft«, erzählt er. Da habe viel abgefärbt. Allerdings war es auch immer durchsetzt mit Angst, selbst »zum Opfer« zu werden. Linke gab es nicht. Denn nach 30 Jahren »roter Diktatur« waren linke Strömungen verpönt. Und dieser rechte Nährboden wurde von den rechten Kadern aus dem Westen genutzt, um sich zu etablieren. Die Hoffnung war, wenn im Osten bereits ein System gestürzt wurde, würde das vielleicht nochmal klappen.

Als »super belastende Episode« beschreibt er eine Erinnerung aus dem Kindergarten. In dem Buchabschnitt wird geschildert, wie ein Mädchen von der Kindergärtnerin beim Essen drangsaliert und gezwungen wird, immer weiter zu essen, obwohl es sagt, dass es nicht ginge. Bis es alles wieder ausspuckt und dadurch zum Gespött der ganzen Kindergartengruppe wird. Die Erzieherin greift nicht schlichtend ein, sondern beleidigt und demütigt das Mädchen noch weiter. Die Stimmung ist gedrückt. Erst recht, als Bolz von dem vielen Feedback zu diesem Kapitel erzählt. Es wirkt fast so, als habe jede und jeder solch eine Person in seinem Kindergarten gehabt, manche schildern auch, sie seien dieses Kind gewesen.

Nach einem kurzen Auszug aus dem Buch zum Kiffen kommt schließlich der Gast Sebastian Krumbiegel auf die Bühne. Er ist 1966 geboren, also eine andere Generation. Trotzdem habe er sich in einigen Passagen wiederfinden können. Aber schnell führt das Gespräch weg von der Vergangenheit. Was kann man aus dem Buch über rechte Strömungen heutzutage lernen und noch viel wichtiger, was muss sich ändern? Denn Krumbiegel stellt fest: »Zurzeit ist es sehr gefährlich, was hier passiert, vor allem im Osten«, und spielt damit auf den sich immer weiter ausbreitenden Rechtsruck an. Obwohl er sich selbst als Optimist sieht, wird doch deutlich, dass es ihm schwerfällt, in der aktuellen Lage diese Einstellung beizubehalten. Auf die Frage, was sich gegen die Rechten tun lässt, führt er die Bedeutung von Bildung an. Aber auch standhaft bleiben und Nazis blockieren sei wichtig. »Da sind wir in Leipzig eigentlich ganz gut drin«, sagt er. Vereinzelt wird zustimmend gejubelt. Zumindest ein bisschen Hoffnung in dieser doch eher deprimierenden Analyse.

»Ich hoffe, dass wir alle schlauer aus dem Saal gehen werden«, sagt Hendrik Bolz bereits am Anfang seiner Lesung. Das hat geklappt, denn sie hat wertvolle Einblicke in eine Zeit des Umbruches und großer Hoffnungslosigkeit geliefert und möglicherweise zu mehr Verständnis geführt, was das mit den Menschen gemacht hat. Auch wenn die Lesung vielleicht keine Lösungen gegen Rechte geliefert hat, so hat sie doch auf jeden Fall zum Nachdenken angeregt.

Foto: Greta Baumann


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4 Kommentar(e)

Der Osten 30.11.2022 | um 18:07 Uhr

Liebe "Wessis", Geehrte Frau Beer, Sie hatten jetzt 32 Jahre Zeit sich umzustellen. Nun ist aber auch mal gut! Inzwischen ist selbst die Bezeichnung "neue Bundesländer" fraglich und auch die Herkunft von Herrn Bolz ist, abgesehen von zwei Jahren kleinkindlicher Tätigkeit, die Ihre. Zu Ihrem Glück gibt es diese fürchterliche Welt aus Angst, Gewalt, Demütigung, Diskriminierung, Drogen, Kriminalität und Nazis nur hier drüben. Sonst hätten Sie sich noch mit Ihrem eigenen Elend beschäftigen müssen. Und zu unserem Glück sind Sie gekommen um uns alle davon zu erlösen. Aber ehrlich: nichts ist Ihnen so erquickend wie das Scheitern dieser fremden Antihelden. So gefällt Ihnen die Einzelwahrnehmung des Autors ganz gut. Sie wird sich sicher gut verkaufen.

Dr. Frank-Peter Hansen 04.12.2022 | um 14:28 Uhr

Damals… Was spricht eigentlich dagegen, sich erzählend seiner Jugend und den daran geknüpften Erinnerungen zuzuwenden? Zumal es sich bei dem Buch von Hendrik Bolz nur auf den ersten Blick um ein Tagebuch handelt. Das wäre dann wirklich von lediglich innerfamiliärer Relevanz. Ist es aber nicht. Zeitgeschichtliches wird mit Individualgeschichtlichem zu einem literarisierten Erlebniskosmos verschmolzen; dadurch ist das Ganze dann doch zu einer Art Roman geworden, der freilich nicht lediglich ein Produkt dichterischer Einbildungskraft ist und sein soll. Und exakt darin besteht seine, wenn man will, auch politikgeschichtliche Bedeutsamkeit. Nullerjahre ist ein ernster Spaß, und dieser unterhaltsamen Mixtur des Erzählers in Wort und Tat entspricht Frau Beers Resümee eines kurzweiligen Abends, der offenbar zum mit einem Lächeln unterlegten Nachdenken angeregt hat. Eine unzeitgemäße, von den Zeitläuften längst zu den Akten gelegte und zu legende, doppelte Selbstbeweihräucherung, wie von dem Vorgängerkritikus auf eine etwas kraus-verzwickte und dezent animose Art – hat er etwa einen persönlich motivierten Strauß mit Herrn Bolz und Frau Beer auszufechten? – unterstellt? Keineswegs!

Der Osten 30.12.2022 | um 17:10 Uhr

Geehrter Herr Dr. Hansen, keineswegs persönlich. Wenn Sie dann aber mit Ihren Entwürfen für einen neuen Klappentext fertig sind, und Sie sich vielleicht ernsthaft auf meine Kritik zum Artikel eingehen möchten: Warum dieser Titel? Warum wird ausgerechnet Hr. Krumbiegel? Schadet die Verknüpfung von Aufwachsen in den Nullerjahren und dem im Osten nicht eher der "politikgeschichtliche Bedeutsamkeit" des Romans? Wer in beiden Geschichten, zwischen denen über ein viertel Jahrhundert und auch fast 500km liegen, so lapidar Parallelen ausweist, läuft Gefahr dabei Klischees zu erliegen und beschneidet damit den Gehalt der eigenen Aussage unnötig auf Trivia. Wer zudem daraus einen kurzweiligen Abend resümiert ist in meinen Augen leicht zu unterhalten.

Dr. Frank-Peter Hansen 06.01.2023 | um 10:09 Uhr

Der Sinn der pseudonymen – unvollständigen: „Warum wird ausgerechnet Hr. Krumbiegel?“ – Sätze des Ostens bleibt dunkel und in seiner Dunkelheit anspielungsreich feindselig. Der Osten hat offenbar die unschöne Angewohnheit, Geschriebenes zweckentfremdend imaginierten eigentlichen Absichten quasi verschwörungstheoretisch zu subsumieren und macht aus meinem Kommentar einen dem Schleichwerbungsgedanken verpflichteten Klappentextentwurf. Dabei habe ich lediglich darauf hingewiesen, dass Individual- und Zeit(geist)geschichtliches sehr wohl in einem Roman eine Synthese einzugehen vermögen. Und warum auch nicht? Es gibt und gab kaum einen relevanten Roman, der nicht auf diese Art komponiert war und ist. Wo also ist das Problem? Klischees?! Die Trivialität des Realen ist voll davon, heißt, der Romancier tut gut daran, ihnen (ihr) seine augenzwinkernde Reverenz zu erweisen. Was in Nullerjahre vielleicht ein wenig zu gehäuft und also etwas aufdringlich – will heißen: sprachlich affektiert in einer Art, sich auf die Dauer totlaufenden, ‚Maschen-Jargon‘ – geschehen ist.