In der Nacht vom 27. zum 28. November 1992 gab es die größte Randale in Leipzig seit dem 17. Juni 1953, inklusive von der Polizei angeschossenem Punk. Sascha Lange schaut 30 Jahre zurück.
Ende 1989 standen in Connewitz ganze Straßenzüge leer und warteten auf den Abriss, um durch billige Plattenbauten ersetzt zu werden. Diese drohende Zerstörung historischer Bausubstanz verhinderte zum Jahreswechsel 1989/90 der neu gegründete Verein Connewitzer Alternative durch die Besetzung eines Dutzends dieser Abrisshäuser rund um die Stockartstraße. Weitere Besetzungen folgten, auch von anderen Initiativen.
Connewitz war damals ein wirklich heruntergekommener Stadtteil. Es gab nichts, was man heute von einem Szene-Stadtteil erwartet, nicht mal einen Döner-Imbiss. Die Hausbesetzer und ihre Sympathisanten waren 1990 ein spontan handelnder, bunt zusammengewürfelter Haufen junger Menschen aus den unterschiedlichsten Jugendsubkulturen. Die Polizei unterband die Besetzungen zunächst nicht, da in den politischen Wirren der Wendezeit die Eigentums- und Zuständigkeitsfragen völlig ungeklärt waren. Solche Hausbesetzungen waren 1990 übrigens kein reines Connewitzer Phänomen, sondern passierten überall in der Noch-DDR.
Stadt- und Landespolitik machen Hausbesetzer zum Gegner
Neben regelmäßigen und teils massiven Überfällen von Neonazis bekamen die Connewitzer Hausbesetzer ab dem Sommer 1990 noch ein zweites Problem. Der neue Leipziger Oberbürgermeister Hinrich Lehmann-Grube (SPD) aus Hannover brachte seine westdeutschen Klischees von Hausbesetzern mit und wollte, in Unkenntnis der Gegebenheiten vor Ort, vor allem »kein Refugium für Anarchisten und Chaoten«. Aus den Leipziger Hausbesetzern wurden nun in den Medien und der Politik »Linksradikale« gemacht. Gleichzeitig kam 1991/92 beständig politischer Druck aus dem CDU-geführten Dresden, mit harter Hand Hausbesetzungen zu unterbinden. Dazu war die CDU-Fraktion im Leipziger Stadtrat auch um keine Polemik verlegen. So bemerkte sie in einer Anfrage von Anfang August 1992: »Eine weitere Ausbreitung autonomen Hausbesetzerterrors bringt die Gefahr mit sich, dass der Stadtteil Connewitz zu einer Mischung aus Hafenstraße und Bronx verkommt.«
Es gab in der Leipziger Stadtverwaltung andererseits aber auch Verantwortliche, die alternativen Hausprojekten prinzipiell eine Chance geben wollten. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits Verhandlungen, die bisher besetzten Häuser durch Verträge zu legalisieren, was jedoch aufgrund von unklaren Zuständigkeiten, Restitutionsansprüchen und teilweise unannehmbarer Vertragsinhalte noch nicht zustande gekommen war. Mitten in diese Verhandlungen verkündete Lehmann-Grube im August 1992 die »Leipziger Linie«, die besagte, dass künftig Neubesetzungen innerhalb von 24 Stunden polizeilich geräumt werden würden. Der politische Beitrag der Leipziger CDU zur Thematik beschränkte sich 1992 auf das Mantra »sofortige polizeiliche Räumung aller widerrechtlich besetzten Häuser«.
In die zunehmenden politischen Spannungen kam bereits im März 1992 ein im Nachgang viel diskutierter Polizeieinsatz gegen eine friedliche und angemeldete antifaschistische Demonstration in Leipzig, in deren Abschlusskundgebung ohne Vorwarnung von der Polizei anlasslos hineingeknüppelt wurde. Die Nazi-Kundgebung am selben Tag vor dem heutigen Bundesverwaltungsgericht hingegen konnte – mit dem ständigen Zeigen des verbotenen Hitler-Grußes – unter einem starken Polizeiaufgebot ungestört stattfinden.
Solidarität in der heterogenen Szene
Die Connewitzer Hausbesetzerszene in dieser Zeit war äußerst heterogen und umfasste alles von linken, alternativen Wohnprojekten über Kulturläden bis zur Partylocation zum Nulltarif. Die ständigen politischen Angriffe seitens der Lokalpolitik in Verbindung mit den physischen Nazi-Angriffen hatten hingegen unter allen Projekten in Connewitz seit 1990 ein Solidaritätsgefühl erzeugt und praktische Selbstschutzstrukturen entstehen lassen, die den Mythos des Stadtteils letztlich festigen sollten. Davon profitierten auch Jugendliche, die in einem leer stehenden Haus in der Connewitzer Leopoldstraße Quartier bezogen hatten. Dort gab es in dieser Zeit zwei nebeneinanderstehende Abrisshäuser, die als Treff und Wohnraum genutzt wurden. Das eine war ein Haus voller junger Punks, das andere von Minderjährigen bevölkert, die in Connewitz in erster Linie einen Rückzugsort vor ihren Eltern sahen und von dort aus loszogen, um Autos zu klauen, und diese dann zu Schrott fuhren. »Crash-Kiddies« wurden sie deshalb in der Szene genannt.
Ihre Handlungen waren natürlich umstritten. Die geklauten Autos standen im Viertel rum, zogen die Polizei an und die Kids schienen sich auch sonst nicht für das Projekt, einen alternativen Stadtteil aufzubauen, zu interessieren. Sie wollten Spaß und Action.
Der Abend des 27. November 1992
Am 27. November gegen 20 Uhr randalierten zwei Jugendliche anlasslos in ebenjener Leopoldstraße, wobei Autoscheiben zu Bruch gingen. So weit, so schlecht. Etwa eine Stunde später kam die Polizei mit etwa 20 Beamten, um den Schaden aufzunehmen. Zu diesem Zeitpunkt waren wieder Jugendliche auf der Straße unterwegs, es gab offenbar auch weitere Sachbeschädigungen. Die Polizei wurde dort nach 22 Uhr zweier mutmaßlicher Täter habhaft, was dazu führte, dass ein gutes Dutzend Jugendlicher in Richtung der Polizisten zog, offenbar, um ihre Kumpels zu »befreien«. Es kam daraufhin gegen 22.30 Uhr in der Leopoldstraße zu einer unübersichtlichen Situation, in deren Verlauf eine Polizistin zwei »Warnschüsse« abgab – mit einem traf sie den 17-jährigen Punk Daniel H. in den Bauch. Ob es eine Notwehrsituation oder Überreaktion war, die den Schuss ausgelöst hatte, ist bis heute nicht geklärt. Jedenfalls fuhren die Polizisten weg, den angeschossenen Daniel H. ließen sie blutend auf der Straße zurück. Seine Erstversorgung übernahmen Jugendliche, bis ein Krankenwagen eintraf.
Die Wut der Kids über ihren von der Polizei angeschossenen Freund entlud sich zunächst an umstehenden Autos in der Leopoldstraße. Auch eine vorbeifahrende Straßenbahn – damals fuhr die Linie 28 über die Wolfgang-Heinze-Straße nach Markkleeberg – wurde gestoppt und demoliert.
Inzwischen verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch Connewitz die Info über einen von der Polizei angeschossenen Punk, teilweise wurde sogar von einem Toten erzählt und dass die Polizei heute Abend alle besetzten Häuser räumen wolle. Im Conne Island und im Zoro fanden zur gleichen Zeit gut besuchte Konzerte statt, es waren also eine Menge junge Connewitz-Sympathisanten im Viertel – auch aus anderen Städten. Daraufhin begannen Jugendliche, in den Seitenstraßen zwischen Connewitzer Kreuz, Wolfgang-Heinze- und Bornaischer bis hinter an die Meusdorfer Straße (die Bild nannte dieses Viertel kurz darauf das »Bermuda-Dreieck«) Barrikaden zu errichten, um mögliche Häuserräumungen zu verhindern.
Zeitgleich stand die Polizei am Connewitzer Kreuz und kontrollierte Fahrzeuge – was auch immer diese Maßnahme nach den Schüssen gerade für einen Sinn ergab. Aufgeschreckt durch den Barrikadenbau zog man knapp 300 Bereitschaftspolizisten aus Dresden, Chemnitz und Halle zusammen und begann dann nach Mitternacht, mit
Wasserwerfern, Räumfahrzeugen und reichlich Tränengas über die Bornaische Straße ins »Bermuda-Dreieck« einzurücken.
An dieser Stelle muss vergleichend auf weitere Ereignisse in den Jahren 1991 und 1992 hingewiesen werden: In dieser Zeit wurden – nicht nur, aber vor allem in Ostdeutschland – Flüchtlingsheime von Neonazis und Rassisten angegriffen. Es gab Tote und Verletzte und immer wieder eine auffallend inaktive Polizei, die solche Angriffe kaum oder gar nicht abwehrte. Einer der traurigen Höhepunkte waren die Ereignisse Ende August 1992 in Rostock-Lichtenhagen, wo die Polizei tagelang tatenlos zuschaute, wie ein rassistischer Mob sich an einer Flüchtlingsunterkunft austobte und mehrere Menschen nur knapp dem Flammentod entkamen.
Im Falle der sich anbahnenden Ausschreitungen in Connewitz am 27. November war die Polizei hingegen hochmotiviert, innerhalb kurzer Zeit ein starkes Aufgebot zusammenzuziehen, um entschlossen gegen Randalierer vorzugehen. Immer wieder gab es deswegen im Nachgang Spekulationen, ob der abendliche Polizeieinsatz bereits im Vorfeld geplant war, konkrete Belege lassen sich dafür aber nicht finden.
Besonders die mit Barrikaden übersäte Bornaische Straße wurde in den nächsten Stunden zum Schauplatz der Auseinandersetzungen. Die Polizei musste sich Meter für Meter Richtung Süden vorkämpfen. Bis zu zweihundert Jugendliche bewarfen die Beamten mit allem, was sie zu fassen kriegten. Stellenweise wurden Pflastersteine sogar mit Schubkarren an die Barrikaden geliefert. Dazwischen standen alteingesessene Anwohner, die fassungslos auf das Geschehen blickten. Nebenbei gab es auch einige Plünderungen von lokalen inhabergeführten Geschäften auf der Straße. Das sorgte unter den jungen Hausbesetzern für kontroverse Diskussionen.
Nach einigen Stunden massiven Wasserwerfereinsatzes hatte sich die Polizei bis zur Tordurchfahrt des Jugendzentrums Zoro vorgearbeitet. Viele der Jugendlichen Akteure waren zu diesem Zeitpunkt bereits geflüchtet, um einer möglichen Verhaftung zu entgehen. Im Zoro gab es aber noch einige Leute, die nach einer langen Partynacht schlicht zu betrunken waren – sowohl um an der Randale teilzunehmen als auch wegzulaufen. Knapp 40 Leute wurden an dem Abend wahllos festgenommen, kurz nach 4 Uhr kehrte langsam wieder Ruhe im Kiez ein.
Fragwürdige Haftbefehle
Gegen 35 der Verhafteten wurde kurz darauf mit fragwürdigen Beweisen Haftbefehl erlassen, Pflichtverteidiger waren nicht erreichbar, bei späteren Haftprüfungsterminen wurden den Verteidigern falsche Zeiten genannt, es folgte wochenlange Untersuchungshaft in abgeranzten Ex-DDR-Knästen. Es war schnell klar, dass die sächsische Justiz hier ein Exempel statuieren wollte. In den Folgemonaten kam es dann zu mehreren Prozessen, die mangels Beweisen für die meisten mit Freispruch endeten, einige bekamen Bewährungsstrafen.
So sehr sich die politische Stimmung auch hochgeschaukelt hatte, kam es im Anschluss doch nicht zu einer allumfassenden Räumung der besetzten Häuser in Connewitz. Entgegen beharrlichen Forderungen der CDU hatten in der Folgezeit vor allem das Jugend- und Kulturamt mit den Projekten Verträge geschlossen und für die bestehenden Häuser eine Rechtssicherheit hergestellt. Hervorzuheben ist auch die Gründung der Alternativen Wohngenossenschaft aus verschiedenen Hausprojekten heraus im Jahr 1995. Weitere Neubesetzungen wurden hingegen in den Folgejahren konsequent geräumt. Doch bevor sich die Situation in Connewitz zunächst beruhigen sollte, bekamen mit dem Tod von Steffen Thüm am 23. Dezember 1992 die Ereignisse erst ihren tragischen Tiefpunkt. Doch das ist eine andere Geschichte.
SASCHA LANGE
Foto: Stockartstraße in Connewitz 1992, von Edith Tar