Vor der Bäckerei Göbecke erstreckt sich eine lange Schlange die Straße hinunter. Und das mitten in der Woche zur Mittagszeit. Das Gebäck scheint gefragt zu sein. In der Vitrine liegen bereits Stollen. Die Saison hat schon Anfang November begonnen und wir können beobachten, wie das Backen vonstattengeht. Um in die Backstube zu kommen, die hinter dem Geschäft liegt, muss man sich durch eine sehr schmale Öffnung links vom Verkaufstresen quetschen. Hier sollte nicht zu viel naschen, wer rein- und rauswill.
Ich werde von einer Mitarbeiterin nach hinten zu Matthias Göbecke geführt. Überrascht stelle ich fest, dass er kein alter, grummeliger Bäckermeister kurz vor der Rente ist – sondern erst 49 Jahre alt und sehr sympathisch. Die Backstube ist ziemlich leer. Nur eine weitere Person schiebt zwischendurch Wägen mit Blechen durch die Gegend. Ansonsten haben, außer den Konditorinnen, die im vorderen Bereich arbeiten, alle bereits Feierabend. Natürlich, schließlich wird das Gebäck für das Alltagsgeschäft bereits ab 4 Uhr morgens gebacken.
Den ersten Schritt des Stollenbackens habe ich leider bereits verpasst, wie mir Matthias Göbecke sagt. Denn einen Tag bevor der Teig angerührt wird, müssen als Erstes die Rosinen in Rum eingelegt werden, damit sie die richtige Feuchtigkeit und intensiven Geschmack für den Stollen haben. Gemeinsam mit den anderen Zutaten werden diese dann in eine riesige Rührmaschine gegeben, die bis zu 150 Kilogramm Teig kneten kann, was an diesem Tag auch komplett ausgenutzt wird. Eingeschweißt in Folien in einer Art Ordner, der an der Wand über einer der Arbeitsflächen befestigt ist, stehen die Zutaten für die verschiedenen Rezepte. Ich kann einen kurzen Blick darauf erhaschen. »Die meisten Bäcker und Bäckerinnen machen ein Geheimnis um die genaue Zusammensetzung und auch darum, wie genau jeder Arbeitsschritt aussieht«, sagt Göbecke. Generell wichtig sei jede Menge Fett. Denn das macht den Stollen so lange haltbar und schützt ihn vor dem Austrocknen. Normalerweise wird dafür Butter benutzt. Es kann aber auch – die kostengünstigere – Margarine verwendet werden. Früher wurde auch manchmal Schweineschmalz hinzugefügt, verrät er. Was sonst noch enthalten ist, kann sehr unterschiedlich sein und hängt auch von der Art des Stollens ab: In der Bäckerei Göbecke gibt es neben dem Rosinenstollen, der am meisten verkauft wird, auch Mohn-, Mandel- und Marzipanstollen. Aber es sind noch jede Menge weitere Variationen wie zum Beispiel Schweizerstollen (mit Schokolade) möglich.
Der Arbeitstag beim Stollenbacken beginnt mit dessen letztem Schritt. Im Keller der Bäckerei liegen auf einem großen Tisch die Stollen des Vortages. Diese sind nun gut abgekühlt und werden von einer Mitarbeiterin auf ein Rost gelegt. Daneben steht eine Wanne mit flüssiger Butter und einem großen Pinsel darin. Denn damit der Zucker auf dem Stollen auch hält, muss dieser erst mit Butter bestrichen werden. Dann wird er kopfüber in Zucker getunkt und schließlich durch ein großes Metallsieb mit Puderzucker bestäubt. Wie mit Schnee bedeckt liegen die fertigen Stollen nun auf den Blechen und duften nach Zucker.
Wieder oben in der Backstube: Alle Zutaten sind abgewogen und in der Knetmaschine. Zuoberst sieht man nur noch die Rosinen und Mandeln. Dann wird die Maschine angeworfen und mischt alle Zutaten einige Minuten lang. Gleichzeitig entsteht in einer deutlich kleineren Maschine noch ein rosinenfreier Teig. Zu zweit wird der Teig anschließend abgewogen, portioniert und in Form gebracht. Dabei gibt es drei verschiedene Größen: 1-, 1,5- und 2-Kilogramm-Stollen. Es ist faszinierend, wie gleichzeitig mit jeder Hand ein Kilo Teig geknetet wird. Es sieht ganz leicht aus, obwohl viel Kraft dafür nötig ist. Danach wird der Teig ein wenig gerollt und auf die Bleche verfrachtet. Nun ruht er für etwa eine Stunde. Lange gehen soll er aber nicht, damit sich keine Luftbläschen bilden und der Teig kompakt bleibt.
Sieben Ein-Kilogramm-Stollen liegen am Ende nebeneinander auf einem Blech. Nur der Mohn- und der Marzipanstollen werden in Kastenformen, wie man sie auch von zu Hause kennt, gebacken. Durch die Mohn- oder Marzipanmasse im Inneren würden sie ansonsten auseinanderfließen, erklärt Matthias Göbecke. Alles wird schließlich in einen riesigen Ofen mit zahlreichen Klappen geschoben und bei über 200 Grad gebacken. Währenddessen können wir die Backstube in Augenschein nehmen und den Bäckermeister zu seinem Handwerk befragen: Was sind das da für große Maschinen, die von oben befüllt werden können und unter denen eine Art Fließband entlangführt? »Die Maschine formt aus Teigportionen Kugeln für Brötchen und spuckt sie dann nacheinander auf das Laufband aus«, erklärt Göbecke. Dieser Apparat steht in einem Teil der Backstube, der erst 2003 an die eigentlichen Räume angebaut wurde. Die Bäckerei existiert bereits seit 1912 in diesen Räumen – und von Beginn an ist der Betrieb in Familienhand. Seit 2004 wird die Bäckerei in vierter Generation von Matthias Göbecke und seiner Schwester geleitet. Wer die Firma in einigen Jahren übernehmen wird, sei noch nicht klar. »Da wird sich schon jemand finden – vielleicht einer der Söhne meiner Schwester«, meint Göbecke zuversichtlich.
Deutlich älter als die Bäckerei sind aber Stollen, oder im Leipziger Dialekt Stolle, wie mir beigebracht wird. Herr Göbecke erzählt, dass die Stolle ursprünglich aus Sachsen komme. Eindeutig belegbar ist das jedoch nicht. Wahrscheinlich wurden Stollen ursprünglich in Klöstern gebacken. Die erste urkundliche Erwähnung findet sich jedoch nicht in Sachsen, sondern im sachsen-anhaltischen Naumburg Anfang des 14. Jahrhunderts. Danach soll es Stollen aber vor allem in Torgau und Siebenlehn gegeben haben, beides sächsische Städte. Dass trotzdem der Dresdner Stollen besonders bekannt ist, liegt vermutlich daran, dass bereits im 15. Jahrhundert auf dem dortigen Weihnachtsmarkt Stollen verkauft wurde. Außerdem lebt in Dresden die Zeithainer Tradition des Riesenstollens aus dem 18. Jahrhundert fort. Bis heute wird immer am zweiten Adventssonntag ein mehrere Meter langer Stollen angeschnitten. Früher wurden Stollen oft wochenlang nach dem Backen im Kalten gelagert, weil sie dadurch angeblich den besten Geschmack entfalten. Über dieses Ritual schüttelt Göbecke den Kopf: »Ganz frisch schmeckt es nicht, das stimmt. Aber ob wenige Tage oder wochenlange Lagerung spielt keine große Rolle.«
Während unseres Gesprächs pikst Göbecke immer wieder mit einem Messgerät in verschiedene Stellen des Stollens, um zu schauen, ob die Temperatur stimmt. Zwischendurch kommt ein anderer Bäcker herein und sagt, dass noch mal ein bisschen höher geheizt werden soll. Alles wirkt sehr routiniert und scheint nach Plan zu laufen. Ich frage mich, ob ich das zu Hause auch mal ausprobieren könnte. Doch das sei unüblich. »Früher kamen häufiger Leute zu uns mit ihren eigenen Plastikwannen mit ihrem Teig, um ihn backen zu lassen«, erzählt Göbecke. »Das ist heute kaum mehr der Fall. Es kommen nur noch vereinzelt Leute, die den Teig schon lange zu uns bringen. Vermutlich kommt das noch aus Zeiten, als nicht jeder einen Ofen zu Hause hatte. Viele lassen direkt einige Kilogramm backen, dafür braucht es einfach größere Öfen als die zu Hause.« Zwei Euro kostet das pro Stollen. Je mehr sich der süßliche Geruch des Stollens auszubreiten beginnt, reift in mir der Entschluss, es trotzdem dieses Jahr mit einer kleinen Menge mal selbst auszuprobieren – in einer veganen Variante mit Margarine und Hafermilch.
Als die Stollen nach einer Stunde aus dem Ofen genommen werden, haben sie eine schöne goldbraune Farbe. Am liebsten würde ich direkt kosten. Aber sie müssen – wir erinnern uns – erst noch abkühlen und einen Tag stehen, bevor sie mit Butter bestrichen und in Zucker getaucht werden. So richtig los geht das Geschäft ab dem ersten Advent – dann werden täglich 150 Kilogramm Stollen gebacken.
Titelfoto: Christiane Gundlach.