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Stadtleben

Richter ohne Robe

Leipzig sucht Freiwillige für das Amt ehrenamtlicher Richter

  Richter ohne Robe | Leipzig sucht Freiwillige für das Amt ehrenamtlicher Richter

In ganz Deutschland werden in diesem Jahr wieder Freiwillige für das Schöffenamt gesucht. Die Bewerbung ist unkompliziert, überprüft werden die Bewerber kaum. Rechtsextreme nutzen das aus.

Thomas Heil kommt zum Interview-Termin in blauem Anzug, darunter trägt er ein weißes Hemd und eine gestreifte Krawatte. »Ich möchte damit den Anlass angemessen würdigen«, erklärt der 73-Jährige. Früher im Job trug er jeden Tag Anzug – heute vor allem, wenn er vor Gericht ist.

Heil ist einer von mehr als 60.000 Schöffen in Deutschland. Sie verleihen dem Spruch »Im Namen des Volkes« ein Gesicht und sollen das Volk in der Rechtsprechung abbilden. Zusammen mit Berufsrichterinnen und -richtern nehmen sie an Verhandlungen teil, sie dürfen Fragen an Angeklagte, Zeugen und Sachverständige stellen, Gutachten anfordern, Zeugen vorschlagen. Und: Sie entscheiden über die Schuld und die Rechtsfolgen für den Täter. Dafür braucht es in der finalen Abstimmung eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Alle haben das gleiche Stimmrecht, auch die Laien.

Das hat Folgen: 2018 hat Elisa Hoven, Professorin für Strafrecht an der Universität Leipzig, untersucht, inwiefern sich die Entscheidungen von Berufsrichtern und Laien voneinander unterscheiden. Sie fand heraus, dass Laien sich durchweg für längere Freiheitsstrafen aussprechen als Richter. Zudem vertraten 79 Prozent der befragten Laien die Ansicht, dass Richter in Deutschland generell zu milde urteilen.

»Das konnte ich gar nicht fassen«, erinnert sich Heil an seine Anfangszeit als Laienrichter –14 Jahre ist das mittlerweile her. »Dass die Schöffen so viel Macht haben, um so ein Ergebnis zu beeinflussen.« Einen Crashkurs in Sachen Gerichtsverhandlung bekommen neu gewählte Schöffen nicht. Heil hat sich selbst auf das Amt vorbereitet, indem er Bücher gelesen hat. »Damit ich dort überhaupt mitreden kann und weiß: Wie laufen Prozesse ab? Wer hat welche Befugnisse? Wie kommt man zu einer Entscheidung?«, erklärt er. »Das macht natürlich nicht jeder.«

Schöffe zu sein, ist anspruchsvoll, einer zu werden hingegen ziemlich einfach: Die Stadt Leipzig sucht für die kommende Amtsperiode 2024-2029 voraussichtlich 1.000 bis 1.500 Schöffen. Auf der Website der Stadt füllt man ein zweiseitiges Bewerbungsformular mit allgemeinen Angaben aus: Name, Geburtsdatum, Familienstand, Akademischer Grad, Beruf, Wohnanschrift. Wer will, kann angeben, warum er das Amt ausüben möchte. In Sachsen unterschreibt man zusätzlich eine Erklärung, nicht für die Stasi gearbeitet zu haben.

Trotzdem melden sich oft nicht genug Freiwillige für das Amt. In dem Fall dürfen die Gemeindeverwaltungen auch zufällig Personen aus der Bevölkerung verpflichten. 2018 waren etwa 20 Prozent der Kandidaten in Deutschland unfreiwillig verpflichtet. In Sachsen konnte der Bedarf in der vergangenen Periode durch freiwilliges Engagement gedeckt werden.

Das Amt für Statistik und Wahlen sammelt alle Bewerbungen in Leipzig und gibt sie als Liste in den Stadtrat. Die Mitglieder stimmen für die Bewerberinnen und Bewerber ab, anschließend soll die Liste eine Woche lang öffentlich einzusehen sein, wo und wann das dieses Jahr geschieht, ist noch nicht bekannt. Alles reine Formsache. Dann bekommt das Amtsgericht die Liste und prüft, ob die Kandidatinnen und Kandidaten die Voraussetzungen erfüllen: deutsche Staatsangehörigkeit, nicht jünger als 25 und nicht älter als 69 Jahre, straffrei, beherrscht die deutsche Sprache.

Heil ist erst als Rentner Schöffe geworden: »Als mein Berufsleben zu Ende war, habe ich gedacht: Dieses größere Vakuum, das musst du noch mit irgendwas Vernünftigem füllen«, sagt er. Er, ein selbsternannter sorgfältiger Zeitungsleser, habe auch die Gerichtsberichte gelesen und sich gewundert, manchmal sogar geärgert über Urteile und Strafmaß. »Aber wir alle, auch ich, bilden sich manchmal zu schnell ein Urteil über eine Sache, ohne dass wir alle Details kennen«, sagt Heil. Also besuchte er als Zuschauer Gerichtsverhandlungen. »Meine Eindrücke waren damals so positiv. Ich hatte es nicht für möglich gehalten, mit welch riesigem Aufwand, Detailgetreue und Gewissenhaftigkeit so ein Prozess geführt wird.« Er bewarb sich und wurde Schöffe.

Genau diese Unkompliziertheit und der Umstand, dass sich so wenige bewerben, versuchen Einige auszunutzen: Die extreme Rechte wirbt seit Jahren dafür, so ein Amt zu übernehmen. Im Januar rief die rechtsextremistische Kleinstpartei Freie Sachsen in einem Telegram-Chat mit 150.000 Abonnenten dazu auf, an den Wahlen teilzunehmen. Man wolle die Justiz »korrigieren«, um beispielsweise »den grünen Richter zu überstimmen, der bei Neubürgern wieder einmal kulturellen Strafrabatt geben will«.

Dass sie damit teilweise Erfolg haben, zeigt der aktuelle Fall von Gitta K. Die Erfurterin war als Schöffin bei einem Schleuser-Prozess tätig. Bei einer Verhandlung erkannten Journalisten sie als Organisatorin einer Demo der extremen Rechten im November 2022. Außerdem soll sie ein Netzwerk-Treffen der NPD in Eisenach besucht haben. Die Vereinigung ehrenamtlicher Richterinnen und Richter Mitteldeutschlands (VERM) forderte ihre Abberufung, Mitte Januar hat die Kammer das Verfahren deshalb ausgesetzt und das Oberlandesgericht in Jena gebeten, K.s Eignung als Schöffin zu überprüfen. Der Schleuser-Prozess wurde abgebrochen und muss nun mit neuer Besetzung von vorne beginnen.

Laut Welt gibt es derzeit über ein Dutzend Entscheidungen von Oberlandesgerichten und Verwaltungsgerichtshöfen, die verfassungsfeindliche Schöffen ihrer Ämtern »enthoben« haben. Wie konnte es so weit kommen?

Der Journalist und Schöffenexperte Joachim Wagner hat dem Thema ein ganzes Buch gewidmet (»Rechte Richter«) und festgestellt: Vor allem in Großstädten ist es quasi unmöglich, Personen aus politisch problematischen Spektren zu erkennen. Das Leipziger Amtsgericht überprüft lediglich die Formalien: ein Blick ins Strafregister, ist die Person insolvent, besteht ein Betreuungsverfahren? Ein Anruf zeigt: Andere Möglichkeiten, Personen mit verfassungsfeindlichen Einstellungen als solche zu entlarven, sehen sie nicht. »Das findet ja in den Köpfen statt«, sagt der Pressesprecher des Amtsgerichts Stefan Blaschke.

So ähnlich sieht das auch Heil. Erfahrungen mit rechtsextremen Schöffen habe er nicht gemacht. »Es wird aber wohl kaum jemand so primitiv sein und in der Beratung sagen: Ich möchte, dass der länger im Gefängnis sitzt, weil der Ausländer ist. Sondern der sagt das vielleicht ohne Begründung und denkt sich das dabei. Schlimm ist es, wenn zwei solche Leute in der Kammer sitzen«, gibt Heil zu bedenken. »Aber es ist natürlich auch so: Sie treffen am Ende das Urteil im Namen des Volkes. Es soll wirklich des Volkes Meinung dort zur Geltung kommen. Auch wenn wir ein Volk sind, wo 10 Prozent Rechte und 10 Prozent Linke wählen. Ich glaube, eine Grenzlinie muss dort gezogen werden, wo jemand dafür eintritt, dass es in Ordnung ist, das Recht zu brechen«, findet Heil.

Marko Goschin, Vorsitzender der VERM, sieht dagegen noch Handlungsspielraum: »Die Bewerbungen sollten auf jeden Fall intensiver geprüft werden«. Die Verantwortung dafür sieht er vor allem bei den Gemeindeverwaltungen. Man könne zum Beispiel den Bewerber im Internet recherchieren, sich dessen Beiträge auf Instagram, Facebook und Co. anschauen. »Schöffen sind den Berufsrichtern gleichgestellt, letztere müssen diverse Überprüfungen überstehen, bevor sie ihr Amt ausüben können. Das sollte bei den Schöffen auch so sein«, findet Goschin.

Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) will die Verfassungstreue als Voraussetzung für die Berufung in ein Schöffenamt gesetzlich festschreiben – und eine Abfrage durch den Verfassungsschutz ermöglichen. Und das noch vor der Wahl der neuen Schöffen. Einen entsprechenden Gesetzesentwurf gibt es schon. Goschin befürwortet das: »Ob das nur stichprobenartig oder bei jedem Bewerber umgesetzt wird, muss man dann schauen«, sagt er.

In Leipzig ist der Stadtrat die Instanz, die noch Einfluss auf die Bewerberliste hat. Eine, die schon mehrere Male dabei war, ist Juliane Nagel (Linke). »Die Schöffenwahl spielt keine übermäßig große Rolle in der Ratsversammlung«, berichtet sie. An besondere Vorkommnisse bei der vergangenen Wahl 2018 kann sie sich nicht erinnern. »Wir haben schon immer auf dem Schirm, die Namen verantwortungsvoll zu überprüfen«, sagt Nagel.

Auch Thomas Heil wird in diesem Jahr ausnutzen, dass sich so wenige bewerben. »Ich bin in Gewissensbissen, weil es heißt, man solle bei der Bewerbung nicht älter als 70 Jahre sein«, sagt er. Versuchen wird er es wohl: »Wer sich eigentlich auf die deutsche Sprache versteht, muss wissen, ›soll nicht‹ heißt nicht ›darf nicht‹.«

Sophie Goldau

Wer Interesse hat, als Schöffe tätig zu sein, kann sich noch bis zum 31. März hier bewerben: https://www.leipzig.de/buergerservice-und-verwaltung/wahlen-in-leipzig/schoeffenwahl

Titelbild: Unsplash / Saúl Bucio


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2 Kommentar(e)

anonym 03.04.2023 | um 08:58 Uhr

Die Bewerbungsfrist endet nicht am 31.03., sonsdern am 22.05.

Redaktion 03.04.2023 | um 13:22 Uhr

Hallo, die Bewerbungsfrist für (Jugend)Schöffinnen und (Jugend)Schöffen endete am Freitag. Für ehrenamtliche Richter/innen am Amtsgericht am 22.5.