Dank einer verordneten Trainingspause hat Weltrekord-Schwimmerin Gisela Schöbel-Graß Zeit für ein Gespräch mit dem kreuzer. Die Leipzigerin empfängt in ihrem gemütlichen Wohnzimmer – ganze 80 Jahre nach ihrem ersten Weltrekord! Schöbel-Graß durchbrach 1943 als erste Frau die Schallmauer von 1:20 Minuten im 100-Meter-Brustschwimmen. Heute ist sie 96 Jahre alt – und immer noch aktiv.
Wie oft gehen Sie noch schwimmen, Frau Schöbel-Graß?
Ich hatte vor Kurzem eine kleine OP am Auge, sonst wäre ich heute schwimmen gegangen. Normalerweise gehe ich noch zwei Mal die Woche, allerdings nicht bei meinem Verein Motor Gohlis-Nord: Dort geht das nur abends und da blockier ich sonst mit meinem Tempo die Bahn. Bei den Leutzschern ist mittags offen für die Altersgruppe 80 und aufwärts, da fühl ich mich wohl.
Wann haben Sie mit dem Schwimmsport angefangen und wie kam es dazu?
Angefangen habe ich bei Poseidon Leipzig, 1940 war das. Damals war ich 14, für heutige Verhältnisse habe ich also sehr spät angefangen. Meine erste Trainerin war meine Tante. Aber es ging dann zügig vorwärts. (lacht) 1942 gab es den ersten deutschen Rekord, 1943 den ersten Weltrekord und 1944 den zweiten. Das ging alles ziemlich schnell. Nach dem Krieg war ich dann bei SSG Schwimmen, seit 1958 bei Motor Gohlis-Nord und es ging dann so weiter mit der Schwimmerei. Meine Tochter witzelt immer, es sei lebensnotwendig, dass ich schwimme.
Wie war das mit dem ersten Weltrekord, was war Ihr Geheimnis?
Ich hatte einen sehr guten Trainer, ohne den wäre das nix geworden. Sehen Sie, ich habe den sogenannten Schmetterlingsstil in Deutschland eingeführt. Der wurde in Amerika kreiert und mein Trainer hat mir den nähergebracht, das wurde mein Stil, da ich über eine gute Arm-Muskulatur verfügte. Heute ist Delfin ja ein eigener Stil, der Schmetterling zählte damals noch zum Brustschwimmen, weil der Beinschlag der des klassischen Brustschwimmens war. Mit meiner Variante war ich erfolgreich.
Übrigens: Wenn ich die Urkunde über den Weltrekord damals schon bekommen hätte, wäre sie in der Wohnung verbrannt. Stattdessen bekam ich sie vom Internationalen Schwimmverband 1948, überreicht vom damaligen Leipziger Oberbürgermeister Erich Zeigner, das war schon besonders.
Wie war das denn während des Krieges mit den Trainingsbedingungen?
Es war schon auch widrig. Die Wohnung meiner Eltern wurde zweimal ausgebombt. Das waren furchtbare Zeiten, aber wir haben es geschafft. Und die Trainingsbedingungen – in was wir da geschwommen sind! (lacht) Im Germania-Bad gegenüber von der Rennbahn, wo ich angefangen habe zu schwimmen, hatte das Wasser 16 Grad! Das wäre heute was für unsere Eisschwimmerinnen. Wir schwammen im Carola-Bad, das aber beschädigt wurde, dann im Westbad am Lindenauer Markt.
Wir sitzen hier mit Ihrer Tochter, sind die anderen Frauen (und Männer) Ihrer Familie auch Wasserratten?
Meine Kinder, Enkel und Urenkel sind fast alle Schwimmer und Schwimmerinnen. Natürlich sind dann ein paar zum Fußball abgewandert oder Turner geworden, aber der Sport zieht sich schon wie ein roter Faden durch die Familiengeschichte. Wir sind dem Verein eng verbunden.
Wie steht denn der Schwimmsport in Leipzig da?
Bei Motor Gohlis-Nord recht gut, wir haben viel Nachwuchs. Im Breitensportbereich sind wir gut aufgestellt. Meine Tochter kennt sich da besser aus – sie engagiert sich ehrenamtlich als Trainerin, damit hab ich nie was am Hut gehabt. (lacht)
Sie sind in Leipzig geboren und leben seit 96 Jahren hier, richtig?
Es waren nicht immer sonnige Zeiten, die großen Umbrüche, das war nicht immer einfach. Aber ich hatte das Glück, mit meinen Eltern gut durchzukommen. Es hat sich natürlich im Laufe der Zeit viel verändert in der Stadt, ob zum Guten oder Schlechten, kann man, glaube ich, nicht so einfach sagen. Ich bin noch gerne hier.
Was haben Sie nach dem Leistungssport gemacht?
Während meiner Karriere studierte ich an der »Meisterschule für das gestaltende Handwerk« zu Leipzig, deren Oberstudiendirektor und mein Lehrer im Fach »Bühnenbildnerei« Erich Gruner war. Er hat das Wahrzeichen »MM« der Messe entworfen. Ein Jahr vor dem Staatsexamen – ich hatte die Vorprüfung schon bestanden – wurde die Schule wegen »totalem Kriegseinsatz« geschlossen. Meine Klasse wurde in den Landkartenverlag Velhagen & Klasing versetzt, so bin ich dann bei der Kartografie gelandet und habe das bis zu meiner Pension gemacht.
Was machen Sie am liebsten, wenn Sie nicht im Wasser sind?
Das Malen hat mir immer viel Freude bereitet. Sonst lese ich gerne Zeitung oder löse Kreuzworträtsel.
Titelfoto: Jan Müller.