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»Wir bauen Bibliotheken für Menschen«

UB-Vizechefin Charlotte Bauer über einen der letzten freien Orte, Sitzsäcke und ihre Liebe zu Leipzig

  »Wir bauen Bibliotheken für Menschen« | UB-Vizechefin Charlotte Bauer über einen der letzten freien Orte, Sitzsäcke und ihre Liebe zu Leipzig

Der Blick durchs Fenster offenbart die Schönheit ihres Arbeitsplatzes. Von ihrem Büro aus kann Charlotte Bauer sehen, wie herrlich sich die Albertina in der Glasfront des Geisteswissenschaftlichen Zentrums spiegelt. Von hier koordiniert Bauer seit 1999 als Vizedirektorin der Universitätsbibliothek (UB) die Geschicke aller Bibliotheksstandorte. An den Wänden über ihr wachen ein Druck von Günter Grass’ »Leseratte«, die der Autor drei Wochen vor seinem Tod signierte, und ein Gemälde von Zar Peter aus der Gemäldesammlung der Bibliothek – »der einzige schöne Mann« in der Sammlung, so Bauer.

Haben Sie schon einmal ein Buch zu spät zurückgegeben?

Tatsächlich nicht. An der Universitätsbibliothek wird man ja erinnert über E-Mail: Achtung, du musst Bücher zurückgeben. Und Bücher, die ich privat lese, kaufe ich, so dass ich dieses Problem nicht habe. Wobei ich gestehen muss, dass ich keine Bücher mehr im Druck kaufe. Ich bin Digitalleserin, weil die Buchstaben immer kleiner werden in den Büchern. Und im Urlaub pflege ich viel zu lesen, da müssen immer zehn Bücher mit. Mit dem Kindle habe ich meine Bücher immer bei mir. Ich bin großer Christa-Wolf-Fan, habe alle Bücher von ihr im Regal stehen, sie mir aber digital noch einmal gekauft.

Aber die Haptik …

Digital lesen hat auch Nachteile, ja. Wenn ich gefragt werde, wie das Buch heißt, das ich gerade lese, komme ich schon in Probleme. Denn man hat nicht mehr diesen Buchumschlag. Dafür lese ich immer im Liegen und muss abends das Licht nicht löschen. Und man stört niemanden durchs Rascheln. Aber mal kurz zurückblättern oder ein Eselsohr reinmachen geht nicht. – Da haben wir schon Fragen beantwortet, die Sie gar nicht gestellt haben.

Es gab vor Jahren in der Albertina einen Vortrag über Bestuhlung in Bibliotheken – faszinierend. Was war im Laufe der Jahre Ihr liebstes Spezialthema?

Tatsächlich Bibliotheksbau. Ich hatte das Vergnügen, bei uns mehrere Bauten zu begleiten. In aller Unbescheidenheit behaupte ich, dass ich in Deutschland die Bibliothekarin bin, die am meisten gebaut hat. Die Campusbibliothek war ein ganz entscheidender Bau, um unsere Serviceleistungen zu verändern. Dann den Umbau der Albertina, der Veterinärmedizin, die Regionalwissenschaft … Ich habe das alles mit begleitet. Und da beschäftigt man sich intensiv mit Service: Wie verstehen wir uns? Sitzplätze sind ein wesentliches Momentum, wenn man sagt: Bibliotheken sind die entscheidenden Arbeitsorte für Studierende. Jeder hat andere Bedürfnisse, der eine steht, der andere sitzt leidenschaftlich gern auf einem Sitzsack, der nächste will auf einem Laufband laufen. Die Diversität von Arbeitsplätzen ist ein wesentlicher Faktor.

Sehen das alle so?

Bei den Bausitzungen für die Campusbibliothek, die 2009 eröffnet wurde, sagte ich: Ich will ungefähr 70 Leseplätze mit Couches und Sesseln haben. Da hat ein Zuständiger vom Staatshochbauamt einen Tobsuchtsanfall bekommen. Ob ich verrückt geworden sei. Mittlerweile ist das selbstverständlich. In der Albertina probieren wir gerade wannenartige Einzelplätze aus.

Ihnen geht es vor allem um die Verbesserung des Services?

Ja, denn wir bauen Bibliotheken für Menschen, nicht wie früher für Bücher. Mit der Campusbibliothek haben wir RFID (Radio-Frequenz-Identifications-Technologie zur automatischen und berührungslosen Medienbuchung und -sicherung, Anm. d. Red.) eingeführt und Selbstbedienungsautomaten. Seitdem müssen Sie Ihre Sachen nicht mehr einschließen. Dort haben wir angefangen, dass man selbstverständlich trinken kann. Also Dinge, die vor Jahren als unmöglich galten. Und das wird angenommen, wenn Sie die vollen Lesesäle anschauen. Ich muss immer lachen, wenn Leute fragen, ob wir heute noch Bibliotheken brauchen.

Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) äußerte neulich, man müsse heute nicht »Stunden in einer Bibliothek stehen und in Büchern wälzen«.

Erstens: Wer macht das Digitale zugänglich? Das sind Bibliothekare unter anderem, weil sie es lizenzieren. Zweitens sind Bibliotheken Arbeitsräume, wo die Menschen sich konzentrieren können oder nicht allein sind oder sie die Atmosphäre anregt.

Zumal ja nicht nur Studierende die Bibliotheken nutzen dürfen.

Genau, es ist einer der letzten freien Orte.

Die 42 Uni-Bibliotheksstandorte zu Wendezeiten wurden auf elf konzentriert; die Sanierung der Albertina war eine Mammutaufgabe. Wie schafft man das?

Ich gehöre hier mittlerweile zu den Urgesteinen, bin seit 1992 in der UB, seit 1999 Vizedirektorin. Das ist viel Zeit. Aber das Tolle an dem Beruf ist, dass man sich nie langweilt. Ein bisschen Energie braucht man, aber über die verfüge ich. Und man braucht bei den Planungen Geduld – die habe ich eigentlich nicht, aber lernte ich. Und man braucht ein gutes Team. Und allein, in diesem Gebäude hier arbeiten zu dürfen, ist ein Geschenk.

Charlotte Bauer auf der Treppe der Albertina
Foto: Privat

Das lange eine halbe Ruine war.

Ich bin hier eine der wenigen, die noch wissen, wie das aussah. Es gibt ein Foto von mir in den Trümmern auf dem Treppenaufgang. Es gab nur den Westflügel. Wo die schwarzen Säulen im Eingangsbereich sind, war Schluss und die Mitte und den Ostflügel gab es nicht. Da war nichts, bis auf Ruinen und Gesträuch. Wenn man das erlebt hat, weiß man den Wiederaufbau noch mehr zu schätzen.

Wie haben Sie sich den Beruf der Bibliothekarin vorgestellt, als Sie das zu studieren begannen?

Das ist erst später im Fernstudium passiert. Ich habe an der Humboldt-Universität in Berlin Diplomsprachmittlerin studiert. Ich wäre im Leben nicht darauf gekommen, irgendetwas mit Bibliotheken zu machen. Nach dem Studium bin ich 1980 nach Leipzig an die DHfK gekommen und habe als Übersetzerin gearbeitet. Diese Übersetzungsabteilung gehörte zur Bibliothek und da dachte ich mir: Dann kannst du auch dieses Fernstudium machen. Ich bin reingerutscht: Mit der Wende wurde die DHfK abgewickelt und ich übernahm die Bibliotheksleitung. Das war meine schwierigste Berufszeit, denn Abwickeln bedeutet, dass man Arbeitsverträge jeweils für ein halbes Jahr erhält und nicht weiß, ob man am nächsten Tag noch die Einrichtung betreten darf. Die Bibliothek wurde dann in die Universität eingegliedert. Und ich bekam vom Personaldezernat immer wieder Listen mit Leuten, denen ich mitteilen musste, dass sie entlassen sind. Das war furchtbar.

Sie haben mal über das Übersetzen gesagt, dass Sie damals gezweifelt haben, ob Sie sich zeitlebens mit den Gedanken anderer Menschen beschäftigen wollen. Da haben Sie mit Ihrer jetzigen Arbeit ganz andere Spielräume …

Ja, total. Und man muss auch sagen, die UB Leipzig ist eine besonders spannende Bibliothek, auch mit den vielen Altbeständen. Da gestalten zu dürfen, macht glücklich.

Stichwort Altbestände: Es werden immer wieder Schätze im Inventar neu entdeckt. Weiß niemand, was die Bibliothek alles beherbergt?

Mittlerweile passiert das seltener. Dank der großen Initiative der Kollegen und Kolleginnen in den Sondersammlungen sind die Bestände ziemlich gut erschlossen. Aber wie zum Beispiel hat Kollege Döring den Heliand entdeckt?

– ein Pergament-Fragment aus der altsächsischen Literatur.

Genau. Das geschah durch blanken Zufall: Döring stand an einem Rollregal in der Sondersammlung und musste warten, weil ein anderer darin stand. Und wie er die Reihe so langguckt, sieht er da ein Buch mit einem Umschlag und denkt: »Das sind ja komische Buchstaben!« Man hatte den Heliand als Umschlag für ein anderes Buch genommen, nachdem er inhaltlich nicht mehr von Interesse war – weil das Material zu kostbar war, um es wegzuwerfen. Das war Zufall. Vieles andere wird erst bei der Tiefenerschließung entdeckt. Wir gehören einfach zu den fünf großen Altbestandsbibliotheken in Deutschland.

Und gleichzeitig sind Sie darum bemüht, immer wieder auch den Bestand, das Wissen, in die Öffentlichkeit zu bringen – sei es über Ausstellungen oder Digitalisierungsprojekte.

Na, das ist ja der Witz. Wir sind ja auch ganz aktiv dabei, zum Beispiel im Rahmen eines DFG-Projektes (die Deutsche 
Forschungsgemeinschaft fördert fachübergreifend Wissenschaft und Forschung, Anm. d. Red.) zusammen mit der Berliner und der Bayerischen Staatsbibliothek das Handschriften-Portal zu bauen, also auch die entsprechenden Technologien einzusetzen. Das geschieht alles nicht um unser selbst willen, sondern um Forscherinnen und Forschern oder der Stadtbevölkerung den entsprechenden Service zu bieten. Ich finde, da haben wir einen Auftrag. Wenn man solche Schätze hat, muss man sie »unters Volk bringen«. Und muss das auch so aufbereiten, dass es was bringt. Da hat sich Herr Schneider (der 2022 in Pension gegangene Direktor Ulrich Johannes Schneider, Anm. d. R.) sehr verdient gemacht, zum Beispiel mit der Dauerausstellung. Bibliotheken haben verschiedene Ebenen, die der Wissensvermittlung ist eine ganz wichtige.

Gibt es technische, digitale Entwicklungen, die Sie für die Anwendung in der Bibliothek eher skeptisch sehen?

Ehrlich gesagt reicht meine Fantasie nicht aus, um da an eine Grenze zu stoßen. Klar, man muss schauen, ob etwas von den Menschen angenommen wird oder sie überfordert. Wir haben uns ganz klar dafür entschieden, Open-source-Software zu nutzen, haben einen großen Bereich digitale Dienste, um die Qualität selbst zu bestimmen und nicht von Konzernen abhängig zu sein. Da steckt eine klare Strategie dahinter, dass wir unseren Katalog und Index selber bauen. Aber dass ich Dinge ausschließe? – Vielleicht kenne ich mich da zu wenig aus … Wir setzen uns ständig mit solchen Fragen auseinander: Zurzeit beispielsweise: Nutzen wir weiterhin Twitter oder steigen wir um? Ich würde aber grundsätzlich nichts ausschließen wollen.

Hat sich nach der Auszeichnung zur Ehrenbürgerin der Universität Leipzig Ihr Berufsalltag verändert?

Nein! Überhaupt nicht. Es hat mich extrem gerührt und vollkommen verblüfft. Man hat mich noch nie so sprachlos erlebt. Und ich neige nicht direkt zur Sprachlosigkeit. Das ist aus verschiedenen Gründen eine große Ehre: Ich bin nicht als handzahme, ruhige Mitarbeiterin bekannt, und dass gleichwohl eine laute und manchmal auch unbequeme Frau mit so etwas geehrt wird – da ist »Polen noch lange nicht verloren«, wie es so schön in der polnischen Nationalhymne heißt. Und es hat mich natürlich auch gefreut, weil gewöhnlich Professorinnen und Forscher geehrt werden, nicht jemand aus dem sogenannten »sonstigen Personal«. Das ist natürlich auch eine Anerkennung für die Institution, in der ich arbeite. Das fand ich schon außergewöhnlich. Viele haben gefragt, ob ich da jetzt kostenlos Straßenbahn fahren kann. Solche Privilegien sind mir nicht verliehen worden in dem Zusammenhang. Aber ich habe eine Medaille bekommen, die muss wohl um die dreißig Jahre alt sein, da steht nämlich noch »Ehrenbürger« drauf.

Haben Sie das Laute und Unbequeme gebraucht, um sich in einer wissenschaftlichen Institution und Welt als Frau durchzusetzen?

Die Menschen haben nun mal unterschiedliche Temperamente. Die einen machen das auf die ruhige Weise genauso effizient wie ich auf die laute. Mir hat es nicht geschadet. Und der Einrichtung auch nicht. Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt.

Zur Buchmesse ist jetzt sicher wieder einiges geplant, oder?

Wir kriegen tolle Leute! Erika Pluhar, Michael Köhlmeier, Arno Geiger, Kerstin Preiwuß. Wir freuen uns: Endlich 
wieder »Leipzig liest«!

Wie ist aktuell eigentlich die Situation in der Bibliothek bezüglich Covid?

Es ist wieder ganz normaler Betrieb, die Hütten sind brechend voll. Wir waren ja einige der wenigen, die wieder ganz schnell zum Normalbetrieb zurückgekehrt sind. Das war eine richtig anstrengende Zeit. Die Arbeitsplätze haben einfach gefehlt.

Sie selbst haben in Berlin studiert, kommen Sie von dort?

Ich bin in Görlitz geboren, bin seit 1980 begeisterte und überzeugte Leipzigerin. Mir hat von Anfang an die Atmosphäre in der Stadt gefallen – der Mutterwitz des gemeinen Leipzigers, dieses kompakte Stadtzentrum, diese Weltoffenheit. Man hatte mir auch mal angeboten, nach Dresden zu gehen. Um Gottes willen, was soll ich denn in Dresden?

Gibt es einen Stadtteil, der Sie besonders begeistert?

Ich wohne im Waldstraßenviertel, mein Hauptbereich sind die Innenstadt und das Musikviertel. Aber dass es so was gibt wie die Südvorstadt: einfach großartig, diese Kneipenmeilen. Ich finde Plagwitz wunderbar und wie es sich entwickelt. Und was die Kulturszene betrifft, sind wir ja sowieso begnadet. Die verschiedenen Möglichkeiten sind schon klasse. Und man kann hier einfach noch sagen: Ich gehe mal in die Stadt. Und dass man von fast überall einen unmittelbaren Zugang zu Grün hat. Das Einzige, was uns fehlt, ist Umgebung. Die Seen sind ja künstlich, das spürt man auch noch.

Was lesen Sie denn privat am liebsten?

Ich lese viel deutsche Literatur. Im Moment habe ich die Delius-Phase. Dass er schon tot ist, das ist so traurig. Davor war Dörte Hansen, die ich mir reingezogen habe. Und ich kann immer wieder Christa Wolf lesen, »Medea« und »Kassandra«.

Freuen Sie sich besonders auf ein Buch aus diesem Frühjahr?

Arno Geiger und Michael Köhlmeier mag ich besonders.

Haben Sie sich das Programm zur Buchmesse schon angesehen?

Nein, noch nicht. Weil ich zur Messe immer hier in der Bibliothek bin. Das ist der einzige Nachteil. Da ist es gut, wenn in der Bibliothek Leute lesen, die man selber mag. Erika Pluhar ist mittlerweile das dritte Mal hier. Zu ihr habe ich eine ganz besondere Beziehung. Ich war damals schon zu DDR-Zeiten bei ihrem Konzert in der Kongresshalle. Das war großartig.

INTERVIEW: LINN PENELOPE MICKLITZ UND TOBIAS PRÜWER

FOTO: CHRISTIANE GUNDLACH


Biografie: Charlotte Bauer, 1958 in Görlitz geboren, ist studierte Diplomsprachmittlerin Russisch/Polnisch und Diplombibliothekswissenschaftlerin. Seit 1980 arbeitet sie in Leipzig, zunächst an der DHfK. Ab 1992 ist sie an der Universitätsbibliothek Leipzig tätig, erst als Leiterin der Zweigstelle am Augustusplatz, ab 1999 als Vizedirektorin.


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