Der Winter 1989/90 ist in Leipzig eine Zeit der Ungewissheit und der Umbrüche. Im Nebel der weiterhin über den Ring ziehenden Montagsdemonstrationen formiert sich mit der Neonaziszene eine für Andersdenkende und Autonome äußerst bedrohliche Bewegung. Für Menschen mit subkulturellem Interesse sowie alternativen Vorstellungen und Ideen bedeutet dies, sich selbst Freiräume schaffen zu müssen und Nischen zu suchen. Doch kleinere, alleinstehende Projekte und Treffpunkte der linken Szene sind schwer zu schützen, wenn sie zum Ziel der nahezu allnächtlichen Angriffe der Neonazis werden. Daher schließen sie sich im südlichen Stadtteil Connewitz zusammen, der eigentlich zum Abriss verurteilt ist. Hier werden ganze Straßenzüge besetzt und gegen die Anschläge von Neonazis gemeinsam verteidigt. Mit der Zeit spitzt sich die existenzielle Bedrohung der autonomen Szene weiter zu – die ehemalige Volkspolizei ist vom westlichen Staatsapparat übernommen und geschult worden, die CDU in den Leipziger Stadtrat eingezogen, die das Hauptproblem der Unruhen bei den Hausbesetzenden selbst sieht und es durch Räumung schnellstmöglich lösen will.
Ein Ohr geht verloren
Zwei Jahre vor der Wende hat sich eine Band gegründet, deren Lieder zur bezeichnenden Hintergrundmusik dieser Jahre werden.
Die vier Jugendfreunde, die sich aus der Schule und der Kirche kennen, beschließen nach einem Konzertbesuch im Mockauer Keller, eine eigene Band zu gründen, mit der Absicht, die an jenem Abend gehörte Musik selbst besser zu machen. Sie taufen sich Defloration des Ohres, woraus der Länge wegen schon bald Defloration oder auch nur Deflo wird. Im elterlichen Kohlenkeller richten sie sich einen – nach eigenen Bekundungen – legendären Proberaum ein und beginnen, im Stil ihrer musikalischen Vorbilder – Einstürzende Neubauten, Die Tödliche Doris und andere – erste Songs zu schreiben. Alsbald entwickelt sich der musikalische Stil in Richtung Punkrock und der bedrohliche politische Kontext, der auch für die Band omnipräsent ist, tritt textlich in den Vordergrund – zwei der vier Mitglieder wohnen in der Stockartstraße, dem Zentrum der Hausbesetzungen in Connewitz.
Erste Konzerte werden gespielt, im Zoro und im Eiskeller, aber auch in Dessau. Mit der Wende folgen Auftritte in Westdeutschland und eine durch das Goethe-Institut vermittelte Reise nach Schweden. Dort spielen Defloration vor großem Publikum, Schülerinnen und Schülern, die sich zuvor mit den Texten der Band befasst hatten.
Bis zur Auflösung 1992 bringt das Quartett zwei Alben raus und nimmt ein drittes im Studio auf. Zudem sind sie die »kinderreichste Punkband Leipzigs«, wirken in ihrem Alltag also auch als Familienväter und gehen ihren Ausbildungsberufen und ihrem Studium nach. Viel Zeit für häufiges Proben und Konzerte bleibt also nicht.
Nach einiger Zeit verlässt Sänger Michel die Band, er geht auf Distanz zur Gewaltthematik, die in den Texten zentral ist, und gibt das Mikrofon an Jagger ab, zuvor oft im Publikum lauthals mitsingend, also textsicher. Als es nach der Randale am 27./28. November 1992 in Connewitz (s. kreuzer 11/22 und 04/93) zu Festnahmen kommt, trifft es auch Jagger und Tommi, ein weiteres Bandmitglied. Während Tommi ins Gefängnis kommt und psychisch sehr leidet, taucht Jagger unter und wird zwischenzeitlich sogar von Interpol gesucht – die übrigen Bandmitglieder entscheiden, das bereits aufgenommene dritte Album nicht zu veröffentlichen. Defloration sind somit Geschichte.
Zurück in No Future
Doch der Untergrund schläft nicht ewig: Dank Schrammel, engagierter Protagonist der lokalen Punkszene und Mitglied des Vereins Heldenstadt Anders, sind Defloration und weitere Punkbands der Wendejahre nicht in Vergessenheit geraten. 30 Jahre nach Auflösung der Band veröffentlicht das Leipziger und Jenaer Major-Label (Die Art, Oma Hans) in Zusammenarbeit mit Heldenstadt Anders eine Dreier-Kassettenbox mit allen Alben von Defloration – und das bisher unveröffentlichte Album »Angst« auch auf Vinyl. Die 18 Songs transportieren die Wut und den politischen Verdruss ihrer Zeit mit harten Metalgitarren. Wer Funpunk und Selbstironie bevorzugt, sollte das Werk eher als Zeitdokument betrachten, das den chaotischen Zustand der Nachwendejahre widerspiegelt. Im Mai werden Defloration darüber hinaus im Zoro ein einmaliges Reunion-Konzert spielen.
Titelfoto: Andrea Rothe.