»Erdbeeren, die Schale zwei Euro!« – Auch wenn das Marktschreien selten geworden ist, kann man auf dem Wochenmarkt vorm Alten Rathaus noch den alten Geist der Kernstadt erahnen. Das Prüfen der Kartoffeln und Äpfel bei Frau Müller läuft ebenso selten ohne kurzes Schwatzen ab wie das Abfüllen der Leipziger Frischkäse-Mischung am Stand von René Lang. Hier erhält man ein Gespür dafür, worum es immer schon ging bei den Geschäften, über die Merkur seine schützenden Hände hielt. Denn der war nicht nur Schutzgott der Händler, sondern auch jener der Redekunst. Markt ist ohne Austausch nicht zu denken. Stadt ist Kommunikationsraum. Und der existiert heute in der Innenstadt nur noch in Schrumpfform.
An der damaligen Burg gelegen, diente der erste Leipziger Markt, der Eselsmarkt, dem Warenaustausch zwischen Bauern und ansässigen Händlern. Auf diesem Straßenmarkt zwischen dem heutigen Richard-Wagner-Platz und Matthäikirchhof versorgten sich die Bürgerinnen und Bürger mit Lebensmitteln und Waren des täglichen Bedarfs. Kaufleute aus der Ferne brachten Güter – und neue Kunde – nach Leipzig, das seit jeher Drehkreuz für Handel und Messe war.
Das gründet in der Lage der Stadt an der Kreuzung zweier bedeutender westöstlich und nordsüdlich verlaufender Handelsstraßen. Zudem war Leipzig Schnittpunkt zweier Wirtschaftsräume, nämlich zwischen altem Reich und slawischen Neusiedelland. Mit den Jahrmarkt- beziehungsweise Messeprivilegien entwickelte sich die Stadt zum führenden Handels- und damit auch Finanzplatz: Tuche aus England und Flandern wurden gehandelt, Samt und Seide aus Italien, Wachs und Pelze aus dem Baltikum, Safran und andere Gewürze aus Venedig, Metalle aus dem Erzgebirge und Böhmen. Die Menschen kamen zusammen, wie Kurfürst August mahnte: »Es muss beides, Käufer und Verkäufer, beisammen sein, und die Sache dahin erwogen werden, dass beiderseits Leute die freien Märkte zu besuchen nicht abgeschreckt oder abgehalten werden.«
Bis Ende des 19. Jahrhundert fand die traditionelle Warenmesse auf dem Markt und Naschmarkt, dem Brühl und vor den Stadttoren entstandenen Plätzen wie dem Augustusplatz statt. Zu Messezeiten standen in den Durchgangshöfen Buden, waren die Lagergewölbe der Kaufmannshäuser geöffnet. In diesem Jahrhundert entstanden spezielle Gebäude wie Specks Hof, die im Erdgeschoss mit Geschäften versehen waren und oben Ausstellungsfläche für Messegäste boten. Das war der eigentliche Zweck der die Stadtarchitektur prägenden Durchgangshöfe. Auch nach Eröffnung der Technischen Messe 1920 (Alte Messe) blieb die Konsumgütermesse in der Innenstadt erhalten.
Das Leipziger Stadtzentrum wird heute wie durch einen Auto-dominierten Ring eingekreist, der den Verlauf der ehemaligen Stadtmauer wiedergibt. Im 18. Jahrhundert wurde diese geschliffen und an ihrer Stelle ein gärtnerisch gestaltetes Alleen-Rund angelegt. Auf diesem grünen Promenadenring – es gab zwar eine Fahrbahn – sollten Menschen flanieren, also zu Fuß gehen. Auch deshalb zählten angrenzende Flächen mit zur Kernstadt, entstanden hier Kaufhäuser wie jenes der Brüder Ury am Rand des heutigen Leuschnerplatzes. Anfang des 20. Jahrhunderts wich dieser Promenadenring einer für den rollenden Verkehr vorgesehenen Anlage. Das »Ring-City«-Konzept sah deren Bebauung mit Hochhäusern vor; die Fassadengestaltung sollte auf die Wahrnehmung aus fahrenden Autos heraus ausgelegt sein. Dazu kam es nicht.
Von historischen Stätten, Museen und Kultureinrichtungen abgesehen, ist die Innenstadt heute vor allem Konsumzone. Ästhetisch austauschbar zeigen sich die Nachwende-Neubauten, die überall stehen könnten. Glasverschalungen und Firmenschilder machen historische Fassaden unkenntlich. Dass Konsum zur Belebung der Innenstadt nicht mehr ausreicht, beweist der unübersehbare Leerstand. Der Internet-Handel zeigt Wirkung, explodierende Mieterwartungen der Immobilien-Branche tun ihr Übriges.
Frühere Diskussionen über Alkoholverbote, Bettler und meckernde Händler deuten die Schwierigkeiten an, mit der Innenstadt angemessen umzugehen. Fünf Jahre benötigte die Stadt fürs Erstellen eines Toilettenkonzepts, um die Notdurft im öffentlichen Raum zu regeln. Aber von diesem Raum ist gar nicht mehr so viel übrig. Dabei sind Städte eigentlich Orte des Zusammenkommens, ist Stadt im Wesen ein sozialer Treffpunkt.
Heute findet sich öffentlicher Raum auf ein Minimum reduziert. Die Passagen, der Petersbogen und andere Gebäude imitieren den Marktplatz als öffentlichen Raum, sind aber privatwirtschaftlich kontrollierte Einrichtungen mit Zutrittsverweigerungsrecht, in denen soziale und politische Aktionen nicht gestattet sind. Willkommen sind Konsumenten, solange sie mitspielen. Menschen ohne Kaufkraft müssen leider draußen bleiben.
Das schmälert den öffentlichen Raum als Lebensraum und Kontaktzone, wo sozialer Austausch – auch der ungewollte – stattfindet. Dieser muss aber als Aktionsfläche für gesellschaftliche Prozesse allgemein und öffentlich zugänglich werden. Dann hätte die Innenstadt wieder Funktion und Attraktivität. Der gemeinsam geteilte Raum ist gesellschaftlicher Kitt, wie Stadttheoretiker Henri Lefebvre das Urbane zusammenfasst: »Der Punkt der Begegnung, der Ort einer Zusammenkunft, die Gleichzeitigkeit. Diese Form hat keinerlei spezifischen Inhalt, aber alles drängt zu ihr, lebt in ihr.«