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Kultur

»Ich möchte als Mensch wahrgenommen werden«

Wissenschaftlerin und Journalistin Andrea Schöne spricht über Ableismus, Barrierefreiheit und Berührungsängste

  »Ich möchte als Mensch wahrgenommen werden« | Wissenschaftlerin und Journalistin Andrea Schöne spricht über Ableismus, Barrierefreiheit und Berührungsängste

Die Autorin sitzt mit ihrem Buch in der Mitte des Tisches, daneben zwei Personen, die das Gesagte in Gebärdensprache übersetzen, eine weitere Person, die jeden Absatz in leichter Sprache zusammenfasst und hinter ihnen ein großer Monitor, auf dem der Text zum Mitlesen erscheint. Auch im Publikum wird auf Barrierefreiheit geachtet, indem genug Platz für Menschen im Rollstuhl geschaffen wird. Was einem ungewohnt vorkommen mag, ist das, was es braucht, um eine Lesung für möglichst viele Menschen zugänglich zu machen. 

Am Dienstag las Andrea Schöne im MdbK aus ihrem Buch »Behinderung und Ableismus«. Sie befasst sich seit vielen Jahren mit den Themen Inklusion und Feminismus. In ihrem Buch blickt sie aus verschiedenen Perspektiven auf das Thema Ableismus. »Ableismus« beinhaltet das englische Wort »able«, was so viel wie »fähig sein, etwas können« bedeutet. Wertet man einen Menschen aufgrund seiner Fähigkeiten ab, ist das ableistisch. Gemeint sind auch Denk- und Verhaltensmuster, die zum Beispiel behindertenfeindlich sind.


Ihr Buch ist eines der ersten deutschsprachigen Bücher, das sich dem Thema Ableismus widmet. Wie kann das sein? 

Ich denke, das liegt daran, dass im deutschsprachigen Raum behinderte Menschen viel zu sehr in Sonderwelten leben. Das ist im anglophonen Raum eher nicht der Fall. Die Behindertenrechtsbewegung hat dort schon Ende der 60er Jahre angefangen, gemeinsam mit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Die Bewegungen haben einander geholfen, nach dem Motto: Wir arbeiten für das gleiche Ziel und zwar, die Gesellschaft zu verändern.
Wenn es um Deutschland geht, muss man sich fragen: Welche deutsche Geschichte haben wir im Hintergrund? Die NS-Zeit. Behinderte Menschen wurden ermordet. Es wird sogar heute noch der Begriff »Euthanasie« genutzt. Meiner Einschätzung nach ist das einer der Gründe, warum behinderte Menschen nicht die Möglichkeiten haben, Gehör zu finden. 


Wo sehen Sie momentan die größten Probleme, wenn es zu Diskriminierung von Menschen mit Behinderung kommt?

Es gibt sehr viele Probleme. Die Themen, die in der Zukunft die meiste Rolle spielen werden, sind der Katastrophenschutz, durch die Klimakrise und die Klimakatastrophen, die schon stattfinden. Ich habe das letzte Woche in Bologna miterlebt, als die Flutkatastrophe in Norditalien begann. 
Was hat das mit behinderten Menschen zu tun? Sie haben ein zwei- bis vierfach höheres Risiko, bei Naturkatastrophen zu sterben, weil Evakuierungssysteme und Unterkünfte nicht barrierefrei sind. Wenn die Gesundheitsversorgung aufgrund einer Naturkatastrophe zusammengebrochen ist oder nur teils vorhanden ist, hat das auch Auswirkungen auf die Versorgungslage behinderter Menschen, die auf bestimmte Dinge angewiesen sind. Menschen sterben, weil sie im eigenen Haus verbrennen, ihr Atemgerät aufgrund von Mangel an Strom oder Sauerstoff nicht benutzen können oder wie in Sinzig (Anm. d. Red.: Stadt im Ahrtal) in einer Behinderteneinrichtung schlicht nicht gerettet werden und dort ertrinken. 


Was wollen Sie mit Ihrem Buch erreichen?

Ich möchte, dass der Begriff »Ableismus« und auch das Konzept dahinter im deutschsprachigen Raum verankert und bekannt wird. Dazu braucht es viel mehr als nur mein Buch. Ich habe schließlich nur über Alltagsableismus geschrieben. Es gibt noch viele andere wichtige Themenbereiche, über die nicht viel gesprochen wird, wie der eben genannte Ökoableismus oder auch Geschlecht und Behinderung. 


An wen richtet sich das Buch?

Das Buch richtet sich an alle. Alle, die etwas über Ableismus erfahren und sich weiterbilden wollen. Ich habe gezielt darauf geachtet, die Zugänge möglichst barrierearm zu gestalten, besonders, was die Sprache angeht. Ich bin Erstakademikerin, dementsprechend weiß ich, dass Sprache eine große Barriere darstellen kann. 
Weil es kaum deutschsprachige Quellen gibt, habe ich vor allem mit englischsprachigen gearbeitet. Ich wollte die Möglichkeit schaffen, dass Menschen diese Hintergründe auch verstehen, wenn sie nicht Soziologie studiert haben oder nicht gut Englisch sprechen können. Ob mir das gelungen ist, ist schwer zu sagen, da die Konzepte einfach kompliziert sind. Mein Buch ist kein Buch in leichter Sprache, dazu braucht es unbedingt Literatur, damit sich gerade Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen über ihre eigenen Erfahrungen informieren können. Wenn ich nicht selbst verstanden habe, in welcher Weise ich diskriminiert werde, kann ich das auch nicht ändern.


Was wünschen Sie sich von Menschen ohne Behinderung? Was können sie machen, um die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung zu verringern? 

Wichtig ist zum einen, Menschen mit Behinderung nicht zu »den Anderen« zu machen und dazu gehört auch, überhaupt mit behinderten Menschen zu kommunizieren und keine Hemmungen zu haben. Menschen mit Behinderung aus Angst, etwas falsch zu machen, gleich ganz zu meiden, ist noch viel schlimmer, als einen Fehler zu machen. Man kann Personen auch diskriminieren, ohne die Absicht zu haben. Aber darüber ins Gespräch zu kommen, führt erst dazu, dass sich etwas ändert. Ich möchte als Mensch wahrgenommen werden und dazu müssen Menschen erstmal mit mir sprechen. Ein anderer Punkt ist, dass Nicht-Behinderte sich für Barrierefreiheit einsetzen sollten. Wenn ich feststelle, dass mein Lieblingscafé eine Treppenstufe hat, warum spreche ich das dann nicht einfach mal an? 


Heute ist der Deutsche Diversity Tag. Welche Bedeutung haben solche Aktionstage für das Thema? 

Diese Thementage sind generell kritisch zu sehen. An einem Tag wird ganz viel über Diversity oder Behinderung oder irgendeine andere Diskriminierungsform gesprochen, das nutzen auch viele Unternehmen für Inklusions-Washing, Greenwashing oder Ähnliches. Vieles ist dabei nur symbolisch und ändert gar nichts. Wichtig ist, dass behinderte Menschen unter Diversity meistens gar nicht erst wahrgenommen werden. Bei Diversitätsdebatten werden wir oft noch ausgeklammert und das muss sich unbedingt ändern. Eine wichtige Botschaft des Diversity Tages wäre, kritisch zu untersuchen, inwieweit ich als Unternehmen überhaupt marginalisierte, benachteiligte Menschen und Vielfalt repräsentiere.


Foto: Andrea Schöne/Buchcover. Unrast Verlag. 


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