anzeige
anzeige
Kultur

Musik als Weltverständnis

Rückblick auf das zweite Mahler-Festival in Leipzig

  Musik als Weltverständnis | Rückblick auf das zweite Mahler-Festival in Leipzig

Im Mittelpunkt stand das gesamte sinfonische Schaffen des Komponisten, der in Leipzig von 1886-1888 als zweiter Kapellmeister des Gewandhausorchesters wirkte und hier seine erste Sinfonie komponierte. Neben den nahezu ausverkauften Sinfoniekonzerten zehn bedeutender europäischer Orchester im Gewandhaus bot das Festival zahlreiche weitere Veranstaltungen, darunter Kammermusik, öffentliche Meisterklassen, Vorträge, Filme und Stadtführungen. Vom 11.-29. Mai 2023 konnte das Festival 35000 Gäste aus 48 Nationen begrüßen, zahlreiche Musikinteressierte in aller Welt verfolgten außerdem die Livestreams der Konzerte.

Einige Impressionen:

Hier höre man keine menschengemachte Musik mehr, sondern kreisende Planeten und Sonnen, sagte Mahler über seine achte Sinfonie, mit der am gestrigen Montagabend das zweite Leipziger Mahler-Festival zu Ende ging. An der fulminanten Aufführung der achten Sinfonie mit über 400 Mitwirkenden unter Leitung von Andris Nelsons waren neben dem Gewandhaus-Orchester namenhafte Gesangs-Solisten, der Gewandhaus-Chor, der Chor der Oper Leipzig, der MDR-Rundfunkchor, der Thomanerchor und der Gewandhaus-Kinderchor beteiligt.

Gustav Mahler selbst schätzte dieses Werk als das Größte ein, was er gemacht habe. Das betrifft nicht nur die neuartige Form einer gigantisch besetzten Vokalsinfonie mit ach Gesangs-Solisten, drei Chören und erweitertem Orchester, sondern auch den Ausdruck eines ganzen Weltverständnisses in Musik. Auf der textlichen Grundlage des mittelalterlichen Pfingst-Hymnus »Veni creator spiritus« und der Schluss-Szene aus Goethes Faust dreht sich hier alles um essenzielle Fragen: Die Schwäche des Menschen, sein Streben und Ringen um Erleuchtung und göttliche Gnade und um die Liebe als höchsten Ausdruck menschlichen Seins. Nicht zuletzt die starke spirituelle Dimension im Schaffen Mahlers erzeugt das immer noch gewaltige Publikumsinteresse an der Musik des Spätromantikers und den internationalen Zuspruch dieses Festivals.


Mehr als Sinfonien

Beschränkte sich das erste Leipziger Mahler-Festival 2011 noch auf das sinfonische Schaffen des Komponisten, war die diesjährige zweite Ausgabe um ein dichtes Rahmenprogramm erweitert. Dies gestattete es, neben den abendlichen Sinfoniekonzerten ganze Tage anzufüllen mit Einführungsvorträgen, Kammermusikprogrammen, darunter ausgefallenen Werkadaptionen, oder Spaziergängen auf den Spuren des Komponisten. In diesem Rahmen präsentierten sich auch die beiden bedeutendsten Verlage Mahlers, Edition Peters und die Wiener Universal Edition. Am vergangenen Donnerstag im historischen Gebäude des Edition Peters Verlags in der Talstraße wurde deutlich, dass die Herausgabe von Mahlers Werken ein bis heute unabgeschlossener Prozess mit sich wandelnden interpretatorischen Konsequenzen ist. Ursache dafür ist die Vielzahl kursierender Partitur-Fassungen und Änderungen, die Mahler bis zuletzt immer wieder an seinen Werken vornahm. So auch noch 1909 in New York an seiner 20 Jahre zuvor uraufgeführten 1. Sinfonie, um diese »durchsichtig schön und vollkommen« werden zu lassen.

Diesem Anspruch wollte mit einer Interpretation dieser Sinfonie am vergangenen Mittwoch auch das Gustav-Mahler Jugendorchester unter Leitung von Daniele Gatti gerecht werden. »Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern das Weitertragen des Feuers.« Stammt dieses Zitat auch nicht, wie vielfach behauptet von Mahler, sondern vielmehr aus der Feder des französischen Sozialisten Jean Jaurés, trifft es doch im Kern, was dieses 1986/87 von Claudio Abbado gegründete europäische Jugendorchester ausmacht: Frische und im allerbesten Sinne ein nicht routiniertes Spiel. Dem auswendig und entspannt dirigierenden Gatti gelang es, das naturhafte Entstehen sich ausbreitender musikalischer Gedanken aus dem Augenblick heraus vollkommen nachvollziehbar zu machen. Transformationen in Tempo und Dynamik schon von Anfang an im Blick habend, entfalteten sich hier musikalische Entwicklungen auf meisterhaftem Niveau. Tastend und empfindlich entstanden in absoluter Transparenz die klingenden Naturbilder des ersten Satzes ebenso selbstverständlich wie das sich behauptende freudige Strahlen im Finale der ersten Sinfonie. Für die Interpretation der ersten und des Adagios aus der letzten, unvollendeten zehnten Sinfonie Mahlers, ernteten die jungen Musiker unverkennbar dankbaren, lebendigen und nicht enden wollenden Applaus.


Gastauftritte aus ganz Europa

Zu den herausragenden Ereignissen gehörte am vergangenen Montag auch das Konzert mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Daniel Harding. Die Interpretation der Siebenten, der letzten der drei mittleren, rein instrumentalen Sinfonien, beeindruckte vor allem durch hochvirtuoses Agieren der vollkommen aufeinander abgestimmten einzelnen Gruppen und Solisten innerhalb des Orchester-Organismus. In extremer Homogenität und mit unglaublicher spielerischer Perfektion präsentierte das Orchester ein enormes Spektrum an Klangfarben und Farbmischungen mit feinst austarierten kammermusikalischen Abläufen, und makellos sich ablösenden Figurationen, welche sich durch den gesamten Ambitus des Orchesterapparats zogen. 

Selten ist die Stadt Leipzig Gastgeberin bedeutender internationaler Klangkörper. Das begeisterte Feedback der musikalischen Gäste beim Mahler-Festival war unter anderem in den Mahler-Lounges nach den Gewandhaus Konzerten im Gespräch mit Moderator Claus Fischer zu spüren. Gelegenheit wiederum für die Leipziger, ihr Bewusstsein auch dafür zu schärfen, was es hier vor Ort gibt, nämlich nicht zuletzt einen wunderbar klingenden Saal, in dem auch andere Orchester sehr gern spielen.

Die eingeladenen europäischen Klangkörper mit teils ausgeprägter Mahler-Tradition präsentierten sich im großen Saal des Gewandhauses mit jeweils deutlich eigenem Klangcharakter. Dies verdankte sich unter anderem auch der verschiedenen Aufstellungen der Instrumente. Eine Besonderheit in dieser Hinsicht bot hier das Budapest Festival Orchester unter Leitung von Iván Fischer mit Mahlers 9. Sinfonie. Dieses Orchester platzierte seine Kontrabässe hinter den Holzbläsern in einer Reihe über die ganze Breite der Bühne und begeisterte mit einem ganz anderen, durchaus etwas heterogenerem Klangbild, einem ungehemmt saftigen Streicher-Vibrato und betont lebendigem, körperlichen Zugang. Mit diesem Klangkörper konnte Fischer insbesondere viele Passagen plastisch überzeichnen, die starken rhythmischen Zugriff fordern. Am eindrucksvollsten passierte das im zweiten, dem Ländler-Satz, wo Mahlers Spielanweisung »etwas täppisch und sehr derb« überzeugend eingelöst wurde.


Ein Festival für wen?

Im stets bis auf wenige Plätze ausverkauften Gewandhaus und über den vielen anderen Veranstaltungsorten der Stadt lag in diesen Tagen fiebrige Erwartung und Dankbarkeit des spürbar internationalen Publikums in der Luft. Das tagelange Eintauchen in Mahlers klingendes Universum, in eine Meta-Welt, abseits zermürbenden Tagesgeschehens bei Gewandhaus-Ticketpreisen von 25 bis zu 250 Euro muss man sich jedoch auch leisten können. Für edle Anlässe müssen Oberflächen poliert und aufgeräumt werden. Obdachlose, die für gewöhnlich in diversen Nischen des Gewandhauses und am Augustusplatz übernachten, waren nun ebenso wie ihre Orte verschwunden. Verdeckt auch die nackten Betonpfeiler um das Gebäude herum mit Bannern, auf denen das Mahler-Universum in Form eines gedruckten Sternenhimmels prangte. Den profanen Aspekt der Finanzierung eines wunderbaren, geistig aufgeladenen, aber aufwändigen, kostenintensiven und auch elitären Festivals durch Sponsoren belässt man nicht im Hintergrund. Gern zeigt sich, wer die Kunst ermöglicht und auch, wer sie nachher einkaufen kann. Auch Präsentationsformen wandeln sich und so schallte es vor Konzertbeginn über Lautsprecher auch einmal mehrdeutig durch den Saal:» dieses Konzert wird Ihnen präsentiert von ›Konsum‹«.  


>Auf arte.tv/mahler stehen die 2., 4., 7. und 9. Sinfonie auch in den kommenden Wochen noch als Video on demand zur Verfügung.


Foto: Gert Mothes.


Kommentieren


1 Kommentar(e)

Rüdiger Saul 03.02.2024 | um 19:19 Uhr

Sehr eloquenter "Kritiker", etwa vom Ex-Thomaner JOHANNES HILDEBRANDT, der schon mit 17 ausserordentliche Fähigkeiten bewies!!? Bitte melde Dich, pardon melden Sie sich mal, falls Sie der Knabensopran unter Herrn Biller waren! Herzlicher Gruß aus Mainz Rüdiger Saul (74)